Ungewöhnlich ist der Anblick des Kunstwerkes, das im K 21, in der Düsseldorfer Kunstsammlung, gezeigt wird. Wir sehen zunächst ein hohes schmales Gerüst aus dünnen, miteinander verschraubten Dachlatten, welches teilweise mit einem weißen Stoff umhüllt ist. Je länger man die Plastik betrachtet, desto mehr erinnert sie an eine mit dem Becken in den Raum vorgebeugte Figur, die ihre Arme nach oben reckt. Der Corpus der überlebensgroßen Gestalt wirkt mit seinen überdehnten Gliedmaßen knochig und ausgemergelt. Die weiße Wand scheint den im Fallen begriffenen, sich aber aufbäumenden Körper aufzufangen und zu halten. Die schräg angewinkelten Beine enden nicht in Füßen. Die Arme haben keine Hände. Das durch die Nase angedeutete Gesicht ist nach oben hin gewandt. Weiß glänzt der fließende Satinstoff, mit dem die Figur aus Latten bekleidet ist, und in dem sich die Konturen des Körpers abzeichnen. Durch das Lattengeflecht hindurch wirft das Licht der Deckenbeleuchtung Schatten auf die Wand, so dass sich Gesicht und Corpus als graue Schatten holzschnittartig auf der Wand abzeichnen. Was hat es mit dieser Figur auf sich?
Georg Herold, Professor für Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf, schuf diese Plastik im Jahr 2009. Im selben Jahr fand die Ausstellung, „Christus an Rhein und Ruhr. Zur Wiederentdeckung des Sakralen in der Moderne 1910-1930“ in Bonn statt. Die Kunstwerke dieser Ausstellung zeigen die Grausamkeiten, Erschütterungen und gesellschaftlichen Umbrüche des Ersten Weltkrieges, dessen Beginn sich zum 100. Mal jährt. Bezieht sich der Bildhauer auf die sakralen Christusdarstellungen der Moderne? Warum verwendet er Dachlatten als Material? Will er sich an der Verspottung Jesu am Kreuz beteiligen, der in den 90-er Jahren von einem jungen Politiker als „Lattengustl“ bezeichnet worden war? Der Titel des Kunstwerkes, „Mon dieu“ = „Mein Gott“, lässt die Möglichkeit zu, die Figur religiös zu deuten. Die beiden Worte erinnern dabei an den Beginn des 22. Psalms, „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ und gehören zu den letzten Worten, die im Matthäusevangelium vom sterbenden Jesus am Kreuz überliefert sind, und die im Antwortpsalm des Karfreitags erklingen. In ihnen liegen der ganze Schmerz und die tiefe Verzweiflung, die Jesus am Kreuz erfasst hat. Sie sind ein Anruf Gottes und ein letzter Aufschrei zum Himmel, der stellvertretend für die vielen Schreie der Menschen stehen kann, die nicht nur zu Kriegszeiten, sondern zu allen Zeiten unter Gewalt, Grausamkeit und Todesangst, leiden.
Auch wenn die Plastik von Herold als Jesusfigur gedeutet werden kann, so bedient er damit doch keine überkommenen, konventionellen Bildvorstellungen und Erwartungen, sondern er spricht vielmehr eine existentielle Grenzsituation und extreme Gefühle an, nämlich die des sterbenden Menschen. Wie passt das weiße Gewand zu diesem sich aufbäumenden Körper? Weiß gilt in vielen Religionen als göttliche Farbe, denn sie erinnert an das helle, weiße, glänzende Licht. Weiß ist somit die Farbe des Anfangs und verweist auf die Schöpfung. Christen feiern an Ostern, dass Jesus Christus, der Sohn Gottes, sein Leben für die Menschen am Kreuz hingegeben hat und gestorben ist, aber nicht im Tod blieb, sondern von Gott am dritten Tag auferweckt wurde. Deshalb ist weiß auch die Farbe des Neuanfangs, der Neuschöpfung.
In dieser Figur verbindet sich beides: der qualvolle Schrei des sterbenden Jesus sowie der Hinweis, dass Gott das Schreien gehört hat (Ps 22,25). Jesus hat die Nacht des Todeskampfes am eigenen Leib erfahren, bis er von Gott in das Licht des Ostermorgens auferweckt wurde. Jesus geht aber nicht zu Gott heim, um die Menschen zu verlassen, sondern er geht ihnen voraus und gibt ihnen die Hoffnung, ihm in das Licht folgen zu können, das nicht mehr untergeht. So kann die ungewöhnliche Gestalt dazu einladen, in ihr ein österliches Bild der Hoffnung zu sehen.
Der Text ist abgedruckt in: Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln 15/14 (11. April), S. 15.
Urheber: Herold, Georg
Titel: Mon dieu, 2009
© VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Fotograf: Bernhard Raspels