Das Dilemma um lange Wartelisten und geringe Spendenbereitschaft:Organspende auf dem Prüfstand christlicher Ethik
Die Zahl postmortaler Organspenden in Deutschland ist seit langem gering. 2023 gab es 965 Spender, gegenüber 8.000 Patienten auf der Warteliste. Und das, obwohl die große Mehrheit der Bevölkerung Organspende befürwortet. Streng reglementierte Lebendspenden (von Nieren u.a.) an enge Angehörige schaffen keine Abhilfe.
Ein Grund für diese Differenz lautet: Der Hirntod als Voraussetzung der Organentnahme sei selten eindeutig festzustellen. Die Vorstellung, dass einem bei lebendigem Leib Organe entnommen werden, schreckt ebenso ab wie der Gedanke, nach diagnostiziertem Hirntod künstlich am Leben erhalten zu werden, um die für eine Entnahme in Frage kommenden Organe frisch zu halten. Die Verstümmelung des toten Körpers vor der Bestattung wird zudem von Angehörigen bisweilen als Zumutung empfunden. Und Skandale um Geschäftemacherei mit manipulierten Wartelisten für Organe schrecken ebenso ab wie die Sorge, die gespendeten Organe könnten auf dubiosen Schwarzmärkten landen.
So reichen in Deutschland altruistisch motivierte Organspenden nicht, das tödliche Dilemma zu beenden. Im Gegenteil: Implantate müssen über den Verbund Eurotransplant aus anderen Ländern importiert werden. Und dennoch sterben hier jedes Jahr zwischen 700 und 1000 Menschen, denen man mit einem Spenderorgan hätte helfen können.
Organe als Instrument des Missbrauchs
Die Not der auf ein Organ wartenden Kranken ist so groß, dass aufgrund der Knappheiten und langer Wartezeiten Anreize für blühende Schwarzmärkte bestehen. Sie wird verstärkt durch soziale Bedrängnisse in armen Ländern. Lebendentnahmen von Nieren gegen geringen Obolus, damit die eigenen Kinder sich nicht prostituieren müssen, Zwangsentnahmen bei Häftlingen, postmortale Entnahmen nach Euthanasie ohne sichere Feststellung des Todes oder nach Exekutionen politisch Verfolgter etwa in China waren und sind Quellen dieses Marktes.
Mit krimineller Energie nutzen solche Händler Nöte der Menschen aus, um mit Angst, Ausbeutung und Morden Geschäfte zu machen. Das Ziel muss es also auch sein, solche Märkte trocken zu legen, indem genügend Transplantate auf legitime Weise zur Verfügung stehen.
Widerspruchslösung als Ausweg aus dem Teufelskreis?
Auch Deutschland muss sich der Verantwortung stellen und nach Auswegen aus dem Teufelskreis ausgebeuteter Not suchen. 2019 machte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn deshalb den Vorschlag, Deutschland solle, wie andere europäische Länder auch, zur Widerspruchslösung übergehen und die seit 2012 geltende Entscheidungslösung ablösen. Dafür gab es seinerzeit jedoch keine parlamentarische Mehrheit, obwohl ein Vergleich der Anzahl entnommener Transplantate im europäischen Vergleich zeigt, dass Länder mit Widerspruchslösung in der Regel deutlich vorne liegen.
Kein Wunder also, dass das Thema nun wieder auf die Tagesordnung kommt. Und dabei sollte es nicht zuerst um politische Interessen gehen, sondern um ethische Argumente. Hier müssen sich Christen einbringen. Im Blick auf die postmortale Spende vor allem zu drei Fragen:
1.) Wann ist ein Mensch tot, so dass eine Organentnahme überhaupt stattfinden kann?
2.) Ist Organspende Christenpflicht?
3.) Ist die Widerspruchslösung der erhoffte Ausweg?
Diskussion um den Hirntod
Ganz grundsätzlich steht die Legitimität postmortaler Spenden unter dem Vorbehalt der Anerkennung des Todeskriteriums. Aus juristischer Sicht handelt es sich dabei um den Hirntod: „Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms.“ So formuliert es der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer 1998.
Keineswegs ist aus medizinischer Sicht evident, dass der Hirntod ein sicheres Anzeichen des eingetretenen Todes ist. Aus ethischer Sicht ist klar: Eine postmortale Explantation kann nur dann legitim sein, wenn der Tod des Spenders eindeutig festgestellt ist. Denn es darf nicht das eine Menschenleben durch das Auslöschen eines anderen Menschenlebens gerettet werden.
Wann ist der Mensch tot?
Der US-amerikanische Neurologe D. Alan Shewmon vertritt die Ansicht, dass nach dem Hirntod die Integrationskraft des Organismus erhalten bleibt. Es können so genannte Hirntote noch Kinder zeugen und gebären, die Körpertemperaturregelung funktioniert ebenso wie körpereigene Abwehr gegen Infektionen. Das Postulat des Hirntodes als Indiz für den Menschentod vereinfache bloß eine Legalisierung der Organentnahme auf Kosten einer sauberen Todesdefinition. Konsequent halten eine solche Pragmatik neben Shewmon auch Vertreter der Medizinethik (Johann Ach, Giovanni Maio u.a.) nicht für ein Kriterium ethischer Legitimität, weil Leben auf Kosten von Leben getötet werde.
Andere christliche Ethiker verstehen den Hirntod als sicheres Indiz für den eingetretenen Menschentod. Eberhard Schockenhoff sah durch festgestellten Hirntod die Selbststeuerung und Integrationsfähigkeit des Organismus irreversibel zerstört. Die Aufrechterhaltung von Lebensfunktionen eines Organismus durch das Gehirn substituierende Maschinen hielt er nicht mehr für menschlich personales Leben. Auf solcher Grundlage kann die Explantation nach Hirntod christlich legitimiert werden, weil nach dieser Definition nunmehr nicht ein Menschenleben zugunsten eines anderen Menschenlebens geopfert wird. Schockenhoff gesteht aber ein, dass eine andere Todesdefinition aus christlicher Sicht konsequent zur Ablehnung so verstandener Legitimität führen muss.
Kirchliche Sicht auf den Hirntod
Die Position der Kirchen zum Hirntod ist nicht eindeutig. Eine weitgehend positive Beurteilung findet sich in einem gemeinsamen Schreiben der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD von 1990. Papst Benedikt XVI. setzte in seiner Ansprache vom 7.11.2008 an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses der Päpstlichen Akademie für das Leben einen anderen Akzent. Er fordert im Zweifel über die sichere Feststellung des Menschentodes die Einhaltung der Vorsichtsregel. Auf katholischer Seite liegt keine lehramtliche Todesdefinition vor. Die verantwortete Gewissenentscheidung bleibt unverzichtbare Grundlage für eine stringente Haltung zur Organspende nach festgestelltem Hirntod: Denn nur von Toten können Organe legitim entnommen werden.
Spenderbereitschaft als freiwilliger Akt der Liebe
In Verantwortung vor uns selbst als Gottes Geschöpfe und Ebenbilder wurde von der katholischen Kirche bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts die Organentnahme als illegitime Verstümmelung und Eingriff in die Integrität des Körpers abgelehnt. Eine solche Sicht hat Papst Pius XII. revidiert. Auch die Lebendspende für enge Angehörige wird in der Not als Akt der Liebe befürwortet, weil der Eingriff in die Körperintegrität geheilt wird durch die mitmenschliche Verbundenheit in Christus (Gal 2,20). Ein so verstandenes Opfer ist nur als freiwilliger, unentgeltlicher Liebesakt denkbar. Es darf kein Zwang oder Druck auf die entsprechende Spenderbereitschaft ausgeübt werden. Niemand hat Anspruch auf Körperteile eines anderen Menschen.
Selbstbestimmung statt moralische Pflicht
Christlich soziale Verantwortung muss Nächstenliebe praktizieren. Diese kann als starke Pflicht ausgelegt werden. Dann liegt die Begründungslast bei dem, der nicht (durch seine Bereitschaft zur Organspende) hilft. Die alternative Auslegung, der sich die Kirchen weitgehend anschließen, begründet im Sinne von Schockenhoff dagegen eine schwache Pflicht. Gerade vor dem Hintergrund der Hirntoddiskussion kann es (christlich) vertretbare Gründe gegen eine postmortale Organspende geben. Und dem Grundsatz „Ultra posse nemo tenetur“ entsprechend muss kein Mensch alle denkmöglichen Opfer erbringen. Dem moralischen Entscheiden obliegt die selbstbestimmte Ausgestaltung der Nächstenliebe. Organspende ist keine Christenpflicht, lebend wie postmortal.
Über Spenderbereitschaft als Pflicht zur Widerspruchslösung
Unter Vorbehalt der Legitimität des Todeskriteriums sind alternativen Lösungen zur Regelung postmortaler Organspenden zu diskutieren. Seit dem 1.11.2012 gilt in Deutschland das von Kirchen und Ethikrat mit getragene „Gesetz zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz“, das am 1.3.2022 durch das „Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“ aktualisiert wurde. Das Prinzip der Freiwilligkeit wurde beibehalten. Zum Spender wird nur der für hirntot erklärte Mensch, der diesen Wunsch ausdrücklich vorher kundgetan hat. Es findet eine regelmäßige Information und Befragung der über 16-Jährigen durch die Krankenkasse statt: mit einer positiven Würdigung von Hirntod und Spenderbereitschaft sowie mit der Aufforderung zur Entscheidung. Aufklärung soll dafür die Grundlage sein und eine Mentalität der Verdrängung ablösen.
Die aktuell wieder diskutierte Widerspruchslösung setzt dagegen grundsätzlich die starke Pflicht jedes Menschen zur postmortalen Spenderbereitschaft voraus. Nur ein ausdrücklicher Widerspruch des Betroffenen zu Lebzeiten oder, sofern keine entsprechende Erklärung vorliegt, der Angehörigen im Sterbefall, kann die Entnahme von Organen verhindern. Wer also das Thema zu Lebzeiten verdrängt, gilt in der Regel als potentieller Organspender. Widersprüche gegen diese kollektive Nutzung müssen eigens erklärt werden. Es scheint sicher, dass mit der Widerspruchslösung mehr Transplantate vorliegen werden.
Vor- und Nachteile des Widerspruchsmodells
Positiv zu bewerten ist an der Widerspruchslösung der zu erwartende Beitrag zur Linderung menschlicher Nöte. Das wiegt schwer.
Doch es gibt auch Bedenken: Der ohne ausdrücklichen Widerspruch wirksame Automatismus legalisierter Explantation rückt Organe in die Nähe von Kollektivgütern. Auch die Idee der Freiwilligkeit wird eingeschränkt, da ein moralischer Rechtfertigungsdruck für den Widerspruch aufgebaut wird.
Damit besteht die Gefahr eines Dammbruchs, durch den sich auf einer schiefen Bahn schleichend eine Kultur des Zwanges durchsetzt. Die „Spende“ ist keine Spende mehr. Das könnte dazu führen, dass der Rechtfertigungsdruck des Nicht-Spenders immer weitere Kreise zieht und am Ende auch Lebendspenden erzwungen werden könnten. Dies ließe sich im Sinne der starken Pflicht rekonstruieren, widerspricht aber den Stellungnahmen der Kirchen. Freiheitseinbußen und die unterstellte Kollektivierung des menschlichen Körpers schwächen die Legitimität des Widerspruchsmodells.
Toleranz statt Eindeutigkeit
Die Organspende ist aus christlicher Sicht ein verdienstvoller Liebesakt. Das betont auch Papst Franziskus. Doch ist sie weder erzwingbar noch unbedingte Pflicht. Auch der kann ein guter Christ sein, der nicht Organspender ist. Ein überzeugender Weg aus dem Dilemma der Not ist nicht in Sicht.
Die einen setzen auf medizinischen Fortschritt, der Transplantationen menschlicher Organe überflüssig machen soll. Diese Vertröstung ist keineswegs befriedigend. Andere schlagen alternative Regelungen vor: etwa die so genannte Clublösung. Hier erhält nur der ein Spenderorgan, der selbst potentieller Spender ist. Doch dabei wird das Prioritäts-Prinzip der Hilfebedürftigkeit ausgehebelt. Und das Organ wird als Pfand zur Handelsware. Im Blick auf Lebendspenden wird sogar ein geregelter Markt für Organe ins Gespräch gebracht. Dagegen steht die Unverkäuflichkeit unseres Körpers. Und die Sorge, wie da wohl die Verteilung gerecht gelingen kann.
All das ist unbefriedigend. Moralisch geboten ist zweifellos eine transparentere Diskussion zum Hirntodkriterium. Aus katholischer Sicht wünschte man sich vielleicht auch eine lehramtliche Klarstellung. Ohne sie bleibt unsere Gewissensentscheidung das Maß des Urteils. Diese Herausforderung anzunehmen, schult die Verantwortung zur Entscheidung. Es bleibt eine Offenheit christlicher Urteile, die sich widersprechen können. Die Spannung im Bekenntnis auszuhalten, schult die in Kirche und Theologie bisweilen unterbelichtete Tugend der Toleranz im ehrlich fairen Streit: mit guten christlichen u.a. Argumenten auf den Pro- und Contra-Seiten der Diskussionen um Tod, Pflicht und Widerspruchslösung.
Übersicht: AusZeit – Online-Magazin des Erzbistums Köln
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