Künstliche Intelligenz: Chancen und Risiken aus christlicher Sicht
Künstliche Intelligenz (KI) gilt schon jetzt als bahnbrechende Technologie. Sie verspricht grenzenlose Optimierung und Zuverlässigkeit. Doch ist KI zu moralischen Entscheidungen fähig? Und kann sie auch für christliche Glaubenserfahrungen eingesetzt werden? Bei aller Euphorie über ChatGPT und Co. sieht der Kölner Theologe Professor Elmar Nass jedoch klare Grenzen.
Selbstfahrende Autos, Bild-Generatoren oder Text-Roboter – Künstliche Intelligenz wird in unserer Gesellschaft immer relevanter. Wie schätzen Sie das Potenzial von KI ein?
Prof. Dr. Dr. Elmar Nass: Der Einfluss von KI auf unser Leben kann kaum überschätzt werden. KI folgt Algorithmen, also mathematischen Formeln. Werden sie mit Problemstellungen konfrontiert, so sortieren sie die in sie eingespeisten Informationen und kommen zu einem kalkulierten Output. Rechenoperationen ermöglichen es, das einmal Einprogrammierte auf neue Kontexte anzuwenden und dafür Lösungen vorzugeben. Das erscheint uns wie ein selbständiger Lernvorgang. Es können auch menschliche Gefühle und Moral simuliert, vermeintlich menschliches Leben auch nach dem Hirntod schier unendlich verlängert und Tote in Hologrammen scheinbar wieder lebendig gemacht werden. KI optimiert, entscheidet, wirkt menschlich und gaukelt uns jenseits österlichen Glaubens vor, den Tod zu besiegen. Sie stellt ärztliche Diagnosen, prägt Meinungsbildung, schafft effiziente Arbeitsprozesse, übernimmt die militärische Zielbestimmung von Waffen, zeigt humanoide Gefühle in Robotern, entwirft Predigttexte, sprachliche Übersetzungen oder ganze Doktorarbeiten.
Ich sehe hier eine neue Kultur am Horizont: Menschliches Entscheiden, Denken und Verhalten werden umfassend dominiert durch die vermeintliche Eindeutigkeit von Algorithmen: in Technik und Wirtschaft, Sprache und Kunst, Wissenschaft und Politik, Theologie und Religion, Ethik und Moral.
Welche Risiken verbergen sich hinter der Nutzung von KI?
Nass: Wenn der Arzt oder Politiker den Vorgaben der KI blind vertraut, wird er ein Sklave sich selbst steuernder Kalküle. Der von KI behandelte Patient wird reduziert auf eine komplexe Ansammlung von Daten. Doch der Mensch ist mehr als das. Die von autonomen Waffen angegriffenen Menschen im Krieg werden zum Spielball von kalten Rechenoperationen. Reales und virtuelles Leben und auch Töten verschwimmen. Was bleibt noch von der Menschenwürde, wenn Roboter Rechte und Pflichten haben oder etwa heiraten? Auch die Kreativität in Kunst, Wissenschaft, Journalismus und Bildung gehen verloren. Algorithmen produzieren Uniformität, wenn auch in wechselndem Licht. Ihnen fehlen ehrliche Empathie sowie die Kreativität zum wirklich Neuen.
Wie groß ist die Gefahr, dass KI gesellschaftliche Moralvorstellungen nachhaltig verändert?
Nass: KI-Logik versteht die Welt, den Menschen, das Zusammenleben und auch Gott oder Religion als Resultate von mathematischen Daten und Variablen. „Künstliche Moral“ wird schon programmiert. Sie ist aber nicht mehr als ein Rechenspiel, in dem es weder echte Gefühle wie Scham, Schuld, Mitleid, Empathie oder Liebe gibt, erst recht keine echten Werte und kein Mysterium. Scheinbar wissenschaftsbasierte Evidenz ersetzt das kreative demokratische Streiten ebenso wie einen freien Journalismus. Debatte und Moral werden auf Rechenprozesse reduziert, an deren Ende ein Richtig oder Falsch steht. Die Pluralität von Moralvorstellungen, Meinungen und Religionen wird obsolet, weil uns eine evidente und somit scheinbar beste Vorstellung von Sinn, Leben und Gerechtigkeit vorgegaukelt wird. Das öffnet Tor und Tür für despotische Unterdrückung.
"Die letzte Entscheidung muss stets beim Menschen liegen. Denn es braucht immer noch den ganzheitlichen Blick über das kalte Kalkül hinaus."
KI wird in vielen Bereichen, unter anderem in der Medizin, als großer Hoffnungsträger angesehen. Kann KI unsere Lebensqualität nachhaltig verbessern?
Nass: Ich sehe hier viele positive Aspekte. KI-basierte Hilfen können den Erfolg bei Operationen erhöhen. Assistive Systeme in der Pflege können die Sicherheit für alte und dementiell erkrankte Menschen erhöhen. Digitale Patientenakten in Krankenhäusern und KI-basierte Diagnosehilfen für Ärzte sparen Zeit und helfen, Fehler zu vermeiden. Übersetzungsprogramme sind eine Hilfe zum internationalen Wissensaustausch. Algorithmen können Ineffizienz in Produktionsprozessen reduzieren. KI-basierte Datenerhebungen ermöglichen neue statistische Berechnungen und exaktere ökonomische Prognosen.
Wichtig dabei bleibt immer, dass am Ende KI nur ein Instrument bleibt, dessen Ergebnisse von Menschen bewertet und eingesetzt werden. Die letzte Entscheidung muss stets beim Menschen liegen. Denn es braucht immer noch den ganzheitlichen Blick über das kalte Kalkül hinaus. Das gebieten Freiheit, Verantwortung, ehrliche Moral und Würde. Unsere Sprache muss lebendig bleiben und deshalb von Menschen kreiert werden. Ist sie von KI normiert, wird menschliche Individualität abgeschafft und unsere Kultur versklavt. Auch Medizin und Wirtschaft laufen in die Irre, wenn sie sich willenlos einem solchen KI-Imperialismus fügen.
"Wird ehrliche menschliche Begegnung ersetzt durch programmierte Stereotype einer vorgetäuschten Empathie oder Liebe, so schafft das eine Kultur der Lüge."
Im April 2023 hat der Theologe Rainer Bayreuther in einem Interview mit der KNA sich mehr Offenheit im Umgang mit KI gewünscht. In diesem Zusammenhang liege es auf der Hand, sich von Text-Robotern etwa Predigten oder Vorlagen für seelsorgerische Gespräche zu schreiben. Kann KI Geistliche in ihren seelsorgerischen Tätigkeiten unterstützen?
Nass: Sicher ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Seelsorger solche KI-basierten Anregungen zurate ziehen. Skepltisch werde ich da, wo kritiklos so generierte Vorlagen übernommen werden. Wird ehrliche menschliche Begegnung ersetzt durch programmierte Stereotype einer vorgetäuschten Empathie oder Liebe, so schafft das eine Kultur der Lüge. Wo ist da noch Raum für persönliche Glaubenserfahrungen oder die persönliche Nähe und Note in Beziehung, Zeugnis und Bekenntnis? Innere Freude an und leidenschaftliche Verantwortung für das Leben und für unsere Schöpfung weichen einer kalten Berechnung. Gott und seine Botschaft werden absorbiert durch berechnete Floskeln. Die Seele wird nicht mehr angesprochen. Das wäre das Ende von Seelsorge.
Ich teile ausdrücklich nicht eine KI-Euphorie, mit der Gott, Mensch und Technik als drei ähnliche Wesen ineinander verschwimmen. Eine solche spekulative „Trinität“ ordnet letztlich Gott und Mensch den Algorithmen unter. Nicht sollen sich unsere Vorstellungen von Gott und Menschenwürde den neuen technischen Errungenschaften anpassen, um modern zu bleiben. Es muss genau anders herum sein: Als Christen müssen wir vielmehr fragen, wie sich neue Technologien mit dem Schöpfungsplan Gottes, der Botschaft Jesu und der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und seiner Verantwortung vor Gott in der Schöpfung vereinbaren lassen. Ein Gottes- und Menschenbild, das die Anschlussfähigkeit an Algorithmen sucht, hat mit christlichem Glauben nichts zu tun.
Experten aus der KI-Branche fordern eine sechsmonatige Pause bei der Entwicklung von KI. In einem offenen Brief der gemeinnützigen Organisation Future of Life heißt es, die Zeit solle genutzt werden, um ein Regelwerk für diese Technologie zu schaffen. Was halten Sie davon?
Nass: So wünschenswert eine solche Pause sein mag, so utopisch ist sie auch. Das ist ein zahnloser Tiger. Es wird immer wen geben, der sich nicht daran hält, um dann anschließend einen Entwicklungsvorsprung zu haben und daraus Profit zu schlagen. Auch suggeriert eine solche Forderung, es gebe ein konkurrierendes Gegenüber von gefährlicher technischer Entwicklung und heilsamer ethischer bzw. rechtlicher Reflexion, die diese bremsen solle. Ethik erschiene wie der Bremsklotz technischer Innovation. Das aber ist falsch. Ethik und technische Innovation müssen Hand in Hand gehen.
"Es braucht dringend die Einbeziehung ethischer Bildung an den internationalen Universitäten, auch und gerade in den technischen, so genannten MINT-Fächern.
Wie kann ein verantwortungsvoller Umgang mit KI gewährleistet werden?
Nass: Wir brauchen jetzt eine starke Technikethik und Forscher mit einem entsprechenden Ethos. Das erfordert internationale Tugendschulung über Würde, Verantwortung und Freiheit. Es braucht dringend die Einbeziehung ethischer Bildung an den internationalen Universitäten, auch und gerade in den technischen, so genannten MINT-Fächern. Und wir brauchen internationale Regeln, die eine KI-basierte Abschaffung von Würde und Demokratie verhindern. Das ist keineswegs trivial. Denn hierbei müssen einerseits kulturelle Unterschiede berücksichtigt werden, wie etwa animistische Vorstellungen in Japan, mit denen technischen Artefakten auch eine Seele zugesprochen wird. Andererseits müssen Regime wie China, die eine KI-gestützte Gleichschaltung der Menschen vorantreiben, mit an den Tisch.
Seit der Enzyklika „Pacem in Terris“ von Papst Johannes XXIII., die am 11. April 2023 ihren 60. Geburtstag feiert, fordert die Soziallehre der Kirche immer wieder eine internationale Weltautorität mit starker Sanktionsgewalt. Nur damit haben global moralische und rechtliche Standards eine Chance. Wer dagegen verstößt, der müsste scharf sanktioniert und geächtet werden. Papst Franziskus fordert deshalb zurecht immer wieder eine solche Autorität und zugleich einen neuen Geist menschlichen Miteinanders, mit dem Welt, Wirtschaft und Technik beseelt wird.
Übersicht: AusZeit – Online-Magazin des Erzbistums Köln
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