Jugendkriminalität im Fokus:Kurve kriegen: Gute Zusammenarbeit zwischen Polizei und SKM
Wenn Kinder und Jugendliche straffällig werden, können die Gründe hierfür vielfältig sein. Einige von ihnen können sich dabei unter ungünstigen Rahmenbedingungen sogar zu so genannten Intensivtätern entwickeln.
Mit dem Ziel, möglichst frühzeitig zu intervenieren, konzentriert sich die Initiative „Kurve kriegen“ des nordrheinwestfälischen Innenministeriums auf besonders kriminalitätsgefährdete Kinder und Jugendliche im Alter zwischen acht und 18 Jahren. Weitere Straftaten sollen verhindert und stattdessen eine Chance auf gesellschaftliche Teilhabe geboten werden.
Dies geschieht durch eine intensive Begleitung der Teilnehmer und deren Familien durch ein Team aus Polizei und pädagogischen Fachkräften von anerkannten Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe sowie durch individuelle, passgenaue Reaktionen und Maßnahmen. Hierzu zählen z.B. die Anbindung an Sportvereine und pädagogische Sportangebote sowie Vernetzung und Austausch im Netzwerk des Jugendlichen und der Familie.
Im Rhein-Kreis Neuss
Auch im Rhein-Kreis Neuss ist „Kurve kriegen“ inzwischen etabliert. Die Kreispolizeibehörde Rhein-Kreis Neuss arbeitet mit dem Sozialdienst katholischer Männer (SKM) Neuss e.V. und dem Sozialdienst katholischer Männer Rheydt e.V. zusammen.
Gemäß dem Leitbild „Im Mittelpunkt steht der Mensch“ leistet der SKM Neuss e.V. seit 1962 Hilfe zur Selbsthilfe, um die Lebensbedingungen von Menschen in Neuss und Umgebung zu verbessern. Die Unterstützungsangebote sind an den Notlagen von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Familien ausgerichtet, unabhängig von Herkunft, Nationalität und Konfession der Hilfesuchenden. Seit mehreren Jahrzehnten ist der SKM Neuss e.V. mit verschiedensten Angeboten in der Straffälligen- und Täterarbeit aktiv.
Die Zusammenarbeit
Am 1. Juli 2021 hat der SKM Neuss e.V. in Kooperation mit dem SKM Rheydt e.V. sowie der Kreispolizeibehörde Rhein-Kreis Neuss Kriminalkommissariat Kriminalprävention/Opferschutz seine Arbeit für die Initiative „Kurve kriegen“ aufgenommen.
Das Team, bestehend aus pädagogischen Fachkräften und Polizeibeamtinnen und -beamten fand schnell zusammen. Anfängliche Vorbehalte – kannte man ja die tatsächliche Arbeitsweise des jeweils anderen noch nicht so genau – konnten abgebaut werden. Man lernte, andere Sichtweisen zu verstehen. So auch, dass Strafverfolgung und pädagogischer Einsatz für straffällig gewordene Jugendliche keine Antagonisten sind und beide Parteien sich gut ergänzen können.
Der Zugang zur Initiative erfolgt immer über die Polizei. Geeignete Kandidatinnen und Kandidaten werden vorgeschlagen, müssen aber hierfür bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Die polizeilichen Ansprechpartner informieren die pädagogischen Fachkräfte tagesaktuell über weitere Straftaten ihrer Teilnehmer oder was sonst in der Familie los ist (der Vater ist in Haft o.ä.), damit diese unmittelbar mit diesen in reflektierende Gespräche einsteigen können.
Die Zusammenarbeit ist von Höhen und Tiefen gekennzeichnet. Daher ist sehr viel Geduld und Flexibilität in der pädagogischen Arbeit gefordert.
„Hat ein Teilnehmer zwei oder drei Termine ausgelassen,“ so Sara Glanz, „bleiben wir erst recht dran.“ Sie wollen „an die Substanz“ gehen, zeigen sich hartnäckig, aber auch sehr engagiert und zugewandt: „Für Verhalten gibt es einen Grund. Wir sind überzeugt, dass die Jugendlichen einen Platz in der Gesellschaft wollen. Und vielleicht stimmt einfach etwas mit dem Angebot nicht.“
In dieser Überzeugung spiegelt sich die systemische Orientierung der Trägergemeinschaft, die die Herangehensweise an die teils sehr herausfordernden Situationen und Kandidaten bestimmt.
Für den SKM: Sara Glanz
In ihrer pädagogischen Arbeit stellen sich für Sara Glanz folgende Fragen: Welche Rolle spielen bestimmte Personen im Umfeld des Jugendlichen? Was haben etwa Familienangehörige mit der derzeitigen Situation zu tun? Oder eine Gruppe Gleichaltriger: Was bieten sie dem Jugendlichen?
Oft werden schädliche Strukturen von den Teilnehmenden selbst erkannt. Aber die eigentliche Frage ist nicht, warum jemand in diesem Bewusstsein an ihnen festhält, sondern: Warum will man sie? Was ist der entscheidende Motivator, der stärker zieht? Manch einer hat zuvor Pech gehabt, die falschen Entscheidungen getroffen, hatte die falschen Freunde oder auch einfach niemanden, der mal sagt: Du bist gut so. Dann sucht ein Jugendlicher sich seinen Platz vielleicht auch woanders.
Diese Kette gilt es zu durchbrechen. Sara Glanz und ihr pädagogischer Kollege Sebastian Vogt versuchen herauszufinden, welche Fähigkeiten in den Teilnehmern schlummern. Die meisten sind sich oft gar nicht bewusst, was sie gut können. Sei es, weil sie es bislang noch nicht ausprobieren konnten. Oder weil sie noch nie darin bestärkt wurden, es herauszufinden.
Die Stärken sehen
Diese teils verdeckten Talente gilt es zu fördern, Stärken aufzuzeigen und zu signalisieren: Du wirst gesehen.
Der Zeitaufwand, den Sara Glanz und Sebastian Vogt investieren, ist individuell. Das absolute Minimum liegt bei einem Termin monatlich, in der Regel finden jedoch deutlich häufiger Treffen statt, bei Bedarf sogar viermal die Woche.
Im Rahmen der Arbeitszeit ist das Team telefonisch jederzeit erreichbar. In Krisen werden auch viele Telefonate ad hoc geführt. Diese Erreichbarkeit und die Bereitschaft, auf den Teilnehmenden und seine individuelle Situation einzugehen, zeigen: man bleibt dran. Auch, wenn der Teilnehmer doch wieder gegen Regeln verstoßen hat. Oder: gerade dann!
Im Team mit den Polizeibeamten der Polizei Rhein-Kreis Neuss werden den pädagogischen Fachkräften aufgrund ihrer Expertise viele Freiheiten gelassen. Sie bestimmen, welche individuellen Maßnahmen ergriffen werden. Manchmal wird auch anonymisiert ein Fallbericht vorgetragen und gemeinsam beraten. Man begegnet sich professionell auf Augenhöhe.
Für die Polizei: Ira Klug
Kriminalhauptkommissarin Ira Klug ist Polizeiliche Ansprechpartnerin (PAPin) in der Initiative und eine von zwei Polizeibeamten, die die Kreispolizeibehörde vertreten. Sie prüft regelmäßig, ob unter den strafrechtlich in Erscheinung getretenen Kindern und Jugendlichen geeignete Teilnehmerinnen und Teilnehmer dabei sind. Sollten die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, findet ein Erstkontakt mit den polizeilichen Ansprechpartnern im Haushalt des Jugendlichen statt.
Bei einem persönlichen Gesprächstermin sind alle Sorgeberechtigten und das Kind oder der Jugendliche mit im Boot, es gilt das Prinzip der Freiwilligkeit: Alle müssen zustimmen.
Manchmal melden sich auch das Jugendamt oder Schulsozialarbeiter und berichten von Kindern und Jugendlichen, die Unterstützung durch die Initiative gebrauchen könnten. Im Rhein-Kreis Neuss hat das Team aus polizeilichen Ansprechpartnern und pädagogischen Fachkräften persönlich viele Schulen aufgesucht und „Kurve kriegen“ vorgestellt.
Ist der Kontakt über die Polizei hergestellt und die Bereitschaft zur Teilnahme (Vorliegen einer Einwilligungserklärung) vorhanden, übernehmen die Pädagogischen Fachkräfte. Ira Klug übernimmt gemeinsam mit ihrem Kollegen Christoph Kaiser die Verwaltungsarbeit, verwaltet das durch das Innenministerium für den Standort zur Verfügung gestellte Budget und verfasst im Sinne der Qualitätssicherung vierteljährlich ausführliche anonymisierte Berichte für das Innenministerium.
Der Kriminalhauptkommissarin gefällt, dass man durch die Zusammenarbeit beide Blickwinkel vereinen kann. Und wenn ein Kandidat entgleitet, springt sie wieder ein, sucht den Kontakt und spricht ein paar deutliche Worte aus Sicht der Polizei. Auch Ira Klug ist im Rahmen ihrer Dienstzeit direkt erreichbar.
Die Arbeit ist für alle Beteiligten anstrengend und herausfordernd – keine leichte Aufgabe für das Fachkräfteteam. Es soll gerade deshalb ein gutes Miteinander geschaffen werden. Dafür setzen sich auch die Polizeibeamtin und der Polizeibeamte ein und nehmen sich Zeit für besondere Events, etwa eine gemeinsame Kanu-Tour mit allen Beteiligten. Das Team stärken und Hemmschwellen abbauen, das hilft in diesem Arbeitsfeld viel.
Ein Teilnehmer: Simon
Simon, der eigentlich anders heißt, hat eine „klassische kriminelle Karriere“ hinter sich, aber was heißt das schon. Jeder Weg ist anders, so wie jeder Mensch anders ist. Simons Startbedingungen haben wenig gemeinsam mit denen von Kindern, die behütet aufwachsen.
Viel auf sich allein gestellt, fing er mit elf Jahren das Rauchen an, einige Zeit später folgte Cannabis. Eines führte zum anderen. Ermittlungsverfahren bezüglich Körperverletzung, Beleidigung und schwerer Körperverletzung standen am Anfang. Es folgten schwerere Straftaten: räuberische Erpressung bis hin zum Raubüberfall. Das Ganze mündete in einem Haftbefehl und führte zu fünf Monaten Untersuchungshaft in einer Jugendvollzugsanstalt. Das Team war sich einig, dass er auch während dieser Zeit intensiv begleitet wird, um eine Perspektive nach der Haft zu entwickeln.
Da die Teilnahme an „Kurve kriegen“ freiwillig ist, wird niemand gezwungen, hier mitzumachen. Simon gab der Sache eine Chance. Er hat sich trotz des einen oder anderen Rückschlags durchgebissen; ein Grund dafür war vielleicht auch, dass Sara Glanz ihn mit einer gewissen Hartnäckigkeit begleitet und Rückmeldung gibt.
Simon sah, dass das, was er tut, auch sehr positive Reaktionen hervorrufen kann, und dass man ihm etwas zutraut.
Ein ganz eigener Weg
Wichtig für Simon war auch, dass ein Weg für ihn gefunden wurde, der zu ihm passt. Gemeinsam mit dem Jugendamt wurden Perspektiven insbesondere mit Hinblick auf die Wohnsituation des Jugendlichen entwickelt, bis letztlich von Seiten des Jugendamtes ein so genanntes „Verselbstständigungswohnen“ gefunden und bewilligt wurde.
Hier erfolgt zwar auch eine Form der Betreuung, aber grundsätzlich muss sich ein Bewohner selbst versorgen. Simon lebt in einer Dreier-WG. Täglich kommt ein Betreuer vorbei und schaut nach dem Rechten. In allem anderen hat der Jugendliche freie Hand, muss sich selbst kümmern, selbst aufräumen und schauen, dass alles läuft. Das ist viel Verantwortung für einen 15-Jährigen, doch es funktioniert.
Mit der entsprechenden Unterstützung und Ermutigung versuchte Simon sich neu zu orientieren, erhielt einen Praktikumsplatz in einem Restaurant und merkte, dass es ihm Spaß macht. Er erhält positive Rückmeldungen, die überaus verdient sind, und stellt sein Können auch vor Sara Glanz unter Beweis.
Was es bewirken kann
Dass das Fachkräfteteam, aber insbesondere die Pädagogen, trotz mancher Umwege, nicht lockergelassen haben, hat einiges bewirkt. Mit der Zeit wuchs eine Form gegenseitigen Respekts, den man an kleinen Dingen merkt. Etwa, dass ihr Lob durchaus ankommt und angenommen werden kann: Vertrauen ist hier ein sehr wichtiges Stichwort. Simon hat gemerkt, dass ihm Vertrauen entgegengebracht wird. Eine Erfahrung, die er so bisher in seinem Leben nicht gemacht hat.
Der Einsatz und das Engagement von Sara Glanz tragen viel zum Gelingen der Initiative und Erfolgen wie bei Simon bei. Aber auch Ira Klug hat sich aus Überzeugung für diesen Arbeitsbereich entschieden. Ihr liegt etwas an den jungen Menschen, die da mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind: „Jetzt kann man noch was tun! Jetzt ist die Zeit noch da, eine andere Richtung einzuschlagen. Jeder hat doch eine Chance verdient.“
„Kurve kriegen“ ist dabei durchaus erfolgreich: „Ich freue mich über die Entwicklung der Kinder, die sie durch ein bisschen Hilfe und Unterstützung machen, da geht einem das Herz auf. Wenn ein Jugendlicher, der eigentlich am Boden war und nicht so recht wusste, wohin mit sich, mit einem Ausbildungsvertrag daherkommt, dann ist schon viel erreicht.“ Und dass es so laufen kann, dafür ist Simon der beste Beweis.
Ihm wurde ein Ausbildungsvertrag angeboten. Dass sein Chef ihn wirklich haben will, wird deutlich, denn es ist für einen unter 16-Jährigen etwas aufwändiger, eine Genehmigung für einen früheren Ausbildungsstart zu bekommen. Es ist eine Bestätigung, die Simon sich verdient hat.
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