Der Fluch des Domherrn:1300 Jahre Klosterinsel Reichenau
Sie sind die „Megastars“ des Mittelalters. Vor 1000 Jahren eilt ihnen ihr Ruf – ohne Internet, Fernsehen, Radio oder Social Media – im ganzen Reich voraus. Wer sie beherbergt, für wen sie Federkiel und feinste Pinsel in die Hand nehmen, der hat es geschafft, der kann sich sehen lassen, der gilt in der damaligen Gesellschaft etwas. Sie selbst sind eher demütig und bescheiden, leisten ihren Dienst zur größeren Ehre Gottes und zur Mehrung des Reichtums ihres Klosters – die Buchmaler und Schreiber.
Chuonradus und Purchardus sind zwei dieser „Stars“. Die beiden Benediktiner sind Brüder, „nicht nur im Geiste, sondern auch geschwisterlich verwandt“, so werden sie es später in einer Handschrift festhalten. Der eine, Chuonradus, lebt in der Benediktinerabtei Seeon unweit des Chiemsees.
Purchardus ist Mönch auf der Insel Reichenau im Bodensee. Ob Chuonradus auch einmal Mitglied des Reichenauer Konvents war, ist im Dunkel der Geschichte verschwunden.
Das erste Benediktinerkloster nördlich der Alpen
Die Geschichte der Benediktiner auf der Bodenseeinsel beginnt im Jahre 724. Damals kommt der heilige Missionsbischof Pirmin mit 40 Mönchen auf die Reichenau. Auf Bitten des örtlichen Herrschers erbauen die Mönche auf der Insel, die damals ein Urwald und voller Schlangen, Kröten und Insekten war – so die Legende –, das erste Benediktinerkloster nördlich der Alpen. 1300 Jahre ist das jetzt her. Anlass genug für eine außergewöhnliche Ausstellung. Nie zuvor sind so viele Reichenauer Handschriften in ihrer Gesamtheit an den Bodensee zurückgekehrt.
Im milden Klima des Bodenseeraums entwickelt sich die von Pirmin gegründete Abtei in dem heidnischen Umfeld Alemanniens prächtig. Die Christianisierung der Region ist erfolgreich. Wenige Jahrzehnte nach der Gründung wird das Kloster zur karolingischen Abtei. Sie genießt die Unterstützung der fränkischen Könige. 780 adelt Karl der Große, der mit seiner Gattin und seinem Bruder auf die Reichenau kommt, durch seinen Besuch das Kloster.
Auch unter Karls Nachfolgern lässt die Förderung der Mönchsgemeinschaft nicht nach. Die drei Kirchen der Insel, die heute UNESCO-Weltkulturerbe sind, entstehen im Laufe des 9. Jahrhunderts beziehungsweise zu Beginn des 10. Jahrhunderts. Berühmt wird die St.-Georg-Kirche in Oberzell wegen ihrer Wandmalereien. Sie stellen verschiedene Szenen aus dem Leben Jesu dar und sind in ihrer Gesamtheit ein einzigartiges Beispiel für die Gestaltung eines Kirchenraumes vor dem Jahr 1000.
Zeitlose Schönheit
Die Kunst des Malens wird auf der Reichenau perfektioniert. In der von den Äbten Ende des 10. Jahrhunderts eingerichteten Malschule entstehen Bücher, die auch 1000 Jahre nach ihrer Entstehung nichts von ihrer Schönheit, Farbenpracht und Faszination verloren haben. Hier haben die „Megastars“ der Jahrtausendwende ihre Kunstfertigkeit in der Buchmalerei erworben.
Auch bis zu Hillinus, einem vermögenden Domherrn im gut 530 Kilometer entfernten Köln, ist die Kunde vom Können der Reichenauer Buchmaler gedrungen. Der Geistliche hat einen Plan: Er möchte Erzbischof von Köln werden. Das ist schon vor 1000 Jahren nicht ganz einfach. Er muss das den Erzbischof wählende Domkapitel davon überzeugen, dass er der richtige Mann für das Amt ist. „Wenn ich dem heiligen Petrus, dem Patron des Doms, einen kostbaren Codex, geschaffen von den besten Buchmalern der Zeit, übergebe, wird das die Domkapitulare sicherlich tief beeindrucken“, so der clevere Domherr.
Also nimmt Hillinus Kontakt zum Abt des Klosters auf der Reichenau auf, gibt eine Handschrift in Auftrag, worauf Purchardus mit seinem Bruder Chuonradus die beschwerliche Reise nach Köln antritt. Die beiden wurden von Hillinus „eingeladen und gezwungen“, heißt es doppeldeutig in dem in goldenen Großbuchstaben verfassten Text über die Hintergründe der Entstehung der Handschrift, die die Brüder mit großem Selbstbewusstsein dem eigentlichen Werk voranstellen.
Weiter halten sie fest: „Wir haben den Auftrag erhalten, das vorliegende Buch zu schreiben und auf den Hauptaltar des heiligen Petrus, der innerhalb der Mauern Kölns errichtet ist, in treuer Ergebenheit niederzulegen. Weil wir freilich wissen, dass der Lohn des Stifters sicher ist, erhoffen auch wir durch die Beschaffenheit der Verdienste Gnade. Du, lieber Leser, erbarme dich zugleich unser.“
Ein Geschenk für Köln
Fest steht: Der Hillinus-Codex ist heute Bestandteil der Erzbischöflichen Dom- und Diözesanbibliothek in Köln und wurde von den beiden Mönchen in der Domstadt geschrieben sowie gemalt. Warum das Werk nicht im heimischen Skriptorium auf der Insel Reichenau entsteht? Niemand weiß es. Für Köln aber ist die Anwesenheit und Arbeit der beiden Benediktiner ein Glücksfall. Sie schmücken nämlich das Widmungsbild der Handschrift, das den Domherrn bei der Übergabe des Evangeliars an den heiligen Petrus zeigt, mit einer originalgetreuen Darstellung des sogenannten „Alten Doms“, des Vorläufers der heutigen Kathedrale. Grabungen im Dom nach dem Zweiten Weltkrieg haben archäologisch die Malerei der Mönche bestätigt.
Zusammen mit einer weiteren Reichenauer Buchmalerei aus der Kölner Dombibliothek wird der Hillinus-Codex ab dem 22. Juli in der Ausstellung in Konstanz zu bewundern sein. Tiefenentspannt schickt der Leiter der Handschriftenabteilung der Bibliothek, Dr. Harald Horst, die einzigartigen Werke auf die Reise nach Süddeutschland. Weiß er doch zumindest den Hillinus-Codex besonders geschützt.
Besonderer Schutz
Die Widmung des Schenkers an den heiligen Petrus enthält eine unmissverständliche Drohung: „Wenn aber irgendwer die Hand voll Frechheit in die Nähe bringt, um dieses Buch wegzunehmen, dann gib diesem, heiliger Petrus, die Wiedervergeltung, so viel wie du mit Christus vermagst. Diesem soll, wenn du dich nicht für Schlimmeres entscheiden willst, der Lohn des Hananias und der Saphira ebenfalls würdig vorbehalten sein.“
Wer wissen will, wie es Hananias und Saphira ergangen ist, der lese in der Bibel die Apostelgeschichte, Kapitel 5.
Chuonradus und Purchardus haben nach ihrem Kölner Aufenthalt den Weg zurück in ihre Klöster gefunden. Beide Namen tauchen in sogenannten Verbrüderungsbüchern beziehungsweise Totenbüchern auf. Verschwunden ist hingegen der Domherr Hillinus. Sein Name wird in keiner Bischofsliste aufgeführt. Vor diesem Hintergrund war für den Domherrn die Finanzierung des Evangeliars eine krasse Fehlinvestition. Für die Nachwelt hingegen ist es ein einzigartiges Geschenk.
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