Das Interview führte Olaf Gruschka
Schulmagazin: Sie sehen noch sehr fit aus, treiben Sie Sport?
Rieck: Sport spielte und spielt eine große Rolle in meinem Leben.
Schulmagazin: Auch wenn Sie der Sport offensichtlich jung hält, steht nun Ihre Entlassung als Schulleiter bevor. Muss man das bevorstehende Ereignis als Austreibung aus dem Paradies begreifen?
Rieck: Die Integration unserer Schule in eine Parklandschaft ist schon sehr idyllisch. Die großen Freiflächen und das ursprüngliche Gebäudes der Schule bilden ein wunderbares Ensemble. Das SJG gehört sicherlich zu den schönsten Schulen des Erzbistums. Dies hat mit Sicherheit auch eine Wirkung nach innen, und ich muss sagen, ich empfinde das als sehr positiv. Ehemals wurde der Gebäudekomplex als eine Schule mit Kloster und Klosterwirtschaft angelegt. Die Grünflächen, die sich jetzt vom Schulhof her so harmonisch auf die Schule hin orientieren, das war früher alles Klosterwirtschaft und bebaut und das ist so neu geplant und entwickelt worden, dass es heute so aussieht als sei es immer ein Ensemble gewesen. Das vor 105 Jahren erbaute Ensemble Schule / Garten / Park ist in Süd-/Nordrichtung angelegt und ist heute aufgeteilt; der Park ist in den städtischen Besitz übergegangen
Schulmagazin:
Sie wirken in der bewussten Dezentrierung Ihrer Person in Ihren Aussagen bescheiden.
Wollten Sie denn immer Schulleiter werden?
Rieck: Ich schätze die Grunddynamik an der Schule doch als schwergewichtiger ein, als das, was eine Person alleine zuwege bringen könnte. Ich bin durchaus zufrieden, am SJG zusammen mit dem Kollegium eine Menge bewegt zu haben.
Ich wollte nicht immer schon Schulleiter werden. In jedem Leben gibt es viele verschiedene Stationen. Auf Grundlage einer Berufsberatung in der Schule und eines Studienführers hatte ich mich in die Richtung einer Kombination aus Mathematik, Volkswirtschaft und Informatik orientiert. Es gab aber in meinem Umfeld starke Stimmen, die mir abrieten, weil ein Studium in diese Richtung, auch das Studium mehrerer Fächer keine Zukunft habe. Aus heutiger Sicht eine grandiose Fehleinschätzung.
Nun ich hatte ja noch Zeit zum Nachdenken und bin freiwillig für zwei Jahre zur Bundeswehr gegangen und habe die damals übliche Laufbahn bis zum Leutnant der Reserve durchlaufen. In dieser Zeit bin ich durch meine Verwendungen und Einsätze dazu gekommen, dass ich auch sehr viel Unterricht erteilen musste.
Nach 15 Monaten Dienstzeit bin ich als ausgebildeter Fernmelder Zugführer in einer Pioniereinheit geworden. Hier bestand mein Alltag etwa zur Hälfte aus dem Erteilen von Unterricht zu den verschiedensten Themen: Innere Führung und Recht, Fernmeldesachen und lauter solche Dinge. Das hat mich sehr geerdet, weil die Flusspioniere harte Jungs waren.
Schulmagazin: Definieren Sie bitte harte Jungs.
Rieck: Rheinschiffer, Eisenbieger, Betonbauer, Zimmerleute, also die,die entsprechende Gewerke gelernt hatten, um Brücken über Flüsse oder im Gelände zu bauen. Ich habe damals begriffen, das Unterrichten und die Zusammenarbeit mit dieser Gruppe eine menschliche Dimension hat, die vom Bildungsgrad völlig unabhängig ist.
So war mein Entschluss gereift, dann doch ins Lehramt zu gehen und meine Bundeswehrzeit im Auslauf hat mir schon sehr viel Gelegenheit gegeben, an der Uni Bonn Kurse zu belegen und diverse Scheine im Grundstudium Geschichte zu machen. Das hat mir nachher die Luft verschafft, die ich brauchte, um im Mathematikstudium, das etwas fordernder war, zu bestehen.
Später hat mein Entschluss, Lehrer zu werden dann nur noch mal während der Referendarzeit gewackelt, weil es Anfang der 80er Jahre so schwierig war, eine Anstellung als Lehrer zu finden.
Kurzum: Mein Wille, Lehrer zu werden war latent immer vorhanden und ich war dann sehr glücklich, als ich an der Schule, wo ich Referendar war, die Zusage bekommen habe, dort weiter Lehrer sein zu können.
Schulmagazin: Vom Lehrer zum Schulleiter – Was gab da den Ausschlag?
Rieck: In meiner Zeit am Aloisiuskolleg bekam ich ich relativ früh Aufgaben im Bereich der Schulverwaltung und Oberstufenorganisation angetragen. Meine IT-Kenntnisse waren da sicherlich sehr förderlich. Auf diese Weise bin ich recht früh mit den planenden und verwaltenden Aspekten von Schulleitung in Kontakt gekommen. Aber der Gedanke, selbst eine Schule leiten zu wollen, war mir da noch nicht gekommen.
Schulmagazin: Verstehen Sie sich als Mathematiker und Informatiker mit pragmatischer Relevanz für die Verwaltung?
Rieck: Nein, keinesfalls. Ich habe sehr früh die Bedeutung guter Unterrichtsorganisation für die pädagogische Arbeit und die Atmosphäre an einer Schule erkannt. Ich habe mich aber auch recht intensiv mit den Paradigmen ignatianischer Pädagogik beschäftigt.
Es war eine Anfrage von außen, die mich auf eine neu zu besetzende Stellvertreterstelle an einem Gymnasium hinwies, die einen Impuls in diese Richtung setzte. Ich habe das aus familiären Gründen nicht weiter verfolgt, aber die Grundfrage, suchst du deinen Weg jetzt weiter innerhalb des Systems, in dem du bist, oder kannst du dir auch vorstellen, an eine andere Schule zu gehen, war damit gestellt.
Als dann aber ein paar Jahre später die Ausschreibung hier für St. Joseph am Schwarzen Brett hing, habe mir gesagt: „Fährst du mal nach Rheinbach und schaust es dir mal an. Es war interessant und ich habe es mit meiner Frau besprochen.
Die war viel selbstbewusster als ich und mir bedeutet, wenn du dich bewirbst, werden die dich auch nehmen. Davon war ich gar nicht überzeugt, aber es ist genauso gekommen, wie es meine Frau vorausgesagt hatte. Ich bin dann also 1998 den Schritt in ein zweites Berufsleben, das sich vom ersten sehr deutlich unterschieden hat, gegangen. Ich bin heute über diese Entscheidung wie überhaupt mit meinen beruflichen Entscheidungen sehr froh. Es gibt nichts, was zu bereuen wäre.
Der Tenor Ihrer Frage lag auf einem eher administrierenden Zugang zu Schulleitung. Für mich stehen immer die Menschen im Vordergrund: Man findet eine Schule vor, man findet viele Menschen vor, man findet Bedingungen vor, man sieht auch Möglichkeiten und Entwicklungschancen. Letztlich muss man sehen, dass man mit den Leuten zusammenkommt, ja, Orientierungen aufnimmt, Veränderungen vornimmt und versucht, eine Schule nach einem bestimmten Plan zu entwickeln.
Schulmagazin: Bei diesem begeisterten Statement erübrigt sich eigentlich meine weitere Frage, ob Sie wieder Schulleiter an einer kirchlichen Schule werden würden. Ich will die Frage deshalb ein bisschen anders formulieren. Würden Sie unter den heutigen Bedingungen, die nicht nur kirchlich geprägt sind, auch wieder Schulleiter werden wollen?
Rieck: Ach das ist immer ganz schwierig zu sagen, weil man natürlich am Ende seines Berufslebens ganz viele Dinge weiß, von denen es gut ist, dass man die am Start des Berufslebens noch nicht wusste. Viele ‚Silver Ager‘ blenden diese Entwicklungsdimension aus. Wenn ich eben gesagt habe, dass diese Schule ja weiter aktiv bleiben und sich weiter entwickeln wird, dann könnte ich das jetzt mit einem sehr viel größeren Erfahrungsschatz machen, aber ich würde ja im Grunde genommen systematisch nichts anders machen. Also insofern weigere ich mich auch immer in Kategorien wie besser oder schlechter, früher oder später zu argumentieren. Auch wenn das jetzt allgemein klingt.
Schulmagazin: Sie verstehen sich als Trabant im wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein?
Rieck: Jede Zeit hat ihre eigenen Dispositionen und man muss versuchen diese Disposition möglichst positiv für die jetzt agierenden Lehrer und Schüler wirksam zu machen. Das heißt, die Aufgabe jetzt stellt sich ganz anders dar als die Aufgabe, die ich hier 1998 vorgefunden habe.
Heute versuchen wir zusätzlich zu unserer starken Mädchenschule auch eine starke Jungenschule aufzubauen und dann natürlich auch das, was an Stärke der Jungenschule am Vinzenz Palotti Kolleg vorhanden war mit aufzunehmen, mit zu reflektieren. Diese Schulform wird jetzt im Gesamtzusammenhang anders sein, als beide Einzelschulen es waren. Man wird bemüht sein, das Beste aus beiden Schulen zu synthetisieren, damit das neu aufgestellte SJG dann auch in Zukunft ein lebendiger und leistungsfähiger Organismus sein wird.
Schulmagazin: Herr Rieck, direkte Fragen zu Ihrer Person umgehen Sie ja ganz geschickt. Aber wenn ich Sie jetzt als historisch fundiertes Subjekt anspreche, wie beurteilen Sie die Schulentwicklung in den letzten Jahren?
Rieck: Wir haben das SJG zu einer eigenständigen und starken Marke entwickelt. Man nennt uns heute beim Namen und sagt nicht mehr einfach nur Mädchengymnasium. Ich bin aus einem System mit einem sehr großen Selbstbewusstsein nach Rheinbach gekommen. Das St. Joseph, das ich vorfand, hatte beachtliche Stärken, aber es hatte kein genügendes Bewusstsein davon. Es war dem Kollegium auch nicht leicht zu vermitteln, dass eine Schule neue Stärken gewinnen kann, ohne andere zu verlieren. Das hat sehr viel mit Selbstvertrauen zu tun, das erst aktiviert werden musste. Es gab schon eine vitale Gruppe von Lehrkräften, die sich über Schulentwicklung Gedanken machte, aber noch wenig von der Schulleitung beachtet wurde und auch nur geringen Rückhalt im Kollegium hatte. Trotzdem war ein diskursives Forum da, mit Hilfe dessen in den ersten fünf Jahren meiner Schulleitungszeit viele neue Elemente wachsen konnten. Wir haben eine stärkere Partizipation des Kollegiums und der Eltern über die schulischen Gremien erreicht. Wir haben verschiedene partizipative Gremien neu eingerichtet. Ein Medienzentrum mit Hilfe und Unterstützung der Eltern konnte neu aufgebaut werden. Wir haben einen Schulkiosk eingerichtet, der rein in Elternregie organisiert ist. Wir haben einen Schulsanitätsdienst eingerichtet, der einerseits eine wichtige fachliche und persönliche Qualifikation in der persönlichen Entwicklung der engagierten Schülerinnen darstellt und andererseits heute ein wesentlicher Bestandteil unserer Schulkultur ist. Ich habe die Wettbewerbskultur, die hier sehr unterentwickelt war, sehr stark gefördert. Wir haben zu den ausgewiesenen Stärken der Schule im sprachlichen Aufgabenfeld und im musisch – künstlerischen – literarischen Aufgabenfeld eine ganz enorme Qualitätssteigerung im naturwissenschaftlichen Aufgabenfeld erreicht. Auch hier hat die Entwicklung einer Wettbewerbskultur eine große Rolle gespielt. Wir haben ein neues Fach mit dem Namen Naturwissenschaften entwickelt, dass wir in der Orientierungsstufe integral unterrichten. Da wird z. B. nicht nur über den Vogel und seinen Knochenaufbau gesprochen, sein Gefieder, sondern auch übers Fliegen. Und ganz viele Dinge werden eben nicht nur wissensorientiert oder strukturell, sondern auch phänomenologisch angegangen. In einem sog. Baumbuch begleiten die Kinder einen Baum ihrer Wahl ein ganzes Jahr lang und dokumentieren ihre Beobachtungen und die passenden Unterrichtselemente in sehr ansprechender Form. So bekommt der Unterricht sehr viele ganzheitliche Aspekte und Naturwissenschaften wird von den Kindern als wie ein Hauptfach wahrgenommen.
Schulmagazin: Ich möchte noch einmal auf meine Frage zurückkommen. Ich fragte nach Ihrer Beurteilung der Schulentwicklung jenseits des arkadischen Gefildes in Rheinbach. Sie leben ja nicht in einem abgeschlossenen Organismus. Mit Schulentwicklung meine ich auch G8 und Kompetenzen.
Rieck: Die politischen Setzungen. Über einige kann man sich als private Schule hinweg setzen. Ich bin zum Beispiel nicht Herrn Rüttgers gefolgt und habe nicht das Fach Naturwissenschaften gekippt, nur weil das 2005 ins Schulgesetz so hineingeschrieben worden ist.
Als erzbischöfliche Schule kann man das so machen, weil man bei der Gestaltung der Wege zu den Abschlüssen recht frei ist. ‚Vergleichbar sein‘ lautet das Zauberwort.
Schulmagazin: Ich fragte nach der Beurteilung der neuesten Schulentwicklung. Einerseits antworten Sie wie ein Politiker, ohne auf die konkrete Frage eine Antwort zu geben, andererseits sagen Sie, wenn ich Sie richtig interpretiere, Sie seien kein Politiker, sondern ich nähmen das, was schulpolitisch verordnet wird s an und versuchten es verträglich und im Sinne Ihrer Schülerinnen und Schüler umzusetzen.
Rieck: Ja.
Schulmagazin: Also habe ich das richtig verstanden?
Rieck: Das ist richtig verstanden ja. Ich versuche einen Weg zu finden, dass zum Beispiel G8, was ich vom Grundsatz her vollkommen ablehne, gelingt. Ich muss es ja annehmen, weil es keinem hilft, wenn ich fortgesetzt darüber schimpfe.
Schulmagazin: Ja, so habe ich Sie verstanden.
Rieck: Ich muss es annehmen und muss versuchen, das Beste daraus für die Kinder und Jugendlichen zu machen. Das heißt also, ich muss versuchen, das schulische Angebot so zu strukturieren, dass unsere Schülerinnen und Schüler entwicklungspsychologisch nicht überfordert werden. Wenn Kinder z. B. zu früh mit Abstraktionen konfrontiert werden oder dem Gebiet von Abstraktionen Dinge leisten sollen, die im Durchschnitt einer Jahrgangsstufe eigentlich noch nicht angelegt sind, reagieren wir darauf. Dies haben wir bereits zu G9 Zeiten gemacht und auf G8 übertragen. Chemie zum Beispiel ist ein Fach, das ganz überwiegend Abstraktionen einsetzt. So haben wir entschieden, Chemie nicht zweistündig in den Jahrgangsstufen 7, 8 und 9 zu unterrichten, sondern dreistündig in den Jahrgangsstufen 8 und 9. Jetzt hat man einen Experimentalblock, eine Doppelstunde mit Auswertung, mit einer gewissen Ruhe und man hat eine Stunde für die Systematik. Im Prinzip schieben wir das Ganze zeitlich ein Stück nach hinten und hoffen darauf, dass dann das Abstraktionsvermögen der Schülerinnen schon ein bisschen stärker gewachsen ist.
Auch Geschichte ist ein Fach, das profundes Abstraktionsvermögen an verschiedenen Stellen, jedenfalls für die wichtigen Dinge, die da unterrichtet werden sollen, voraussetzt. Auch da haben wir versucht so eine Phrasierung zu implementieren, um möglichst effizient dann auch die Kinder zu erreichen.
Schulmagazin: Eine kritische Frage habe ich noch. Was kann katholische Schule denn Ihrer Meinung nach besser machen? Gut ist sie ja.
Rieck: Besser als andere?
Schulmagazin: Besser als der Status Quo, besser als andere, ganz ega,l was Sie jetzt sehen. Wir können ja zwei Antworten draus machen.
Rieck: Was katholische oder christliche Schule von der Anlage her besser machen kann, beruht darauf, dass sie in einem geschlossen Paradigma lehrt. Dieser Wertekonsens der besteht und Lehrende und Lernende verbindet, bietet einerseits unterrichtlich viele Möglichkeiten Unterrichtgegenstände entsprechend einzubetten und die relative Geschlossenheit bietet den Lernenden auch eine Art von Übersichtlichkeit, nicht in dem Sinne, dass überall Leitplanken sind keine Leitplanken stehen, die eine bestimmte Bahn vorschreiben, sondern es ist eine Umgebung, eine Lernumgebung, also ein wirkliches Paradigma, das diese Dinge umfängt und einbettet und auch sinngebend wirkt
Schulmagazin: Die zweite Antwortvariante. Was kann die katholische Schule besser machen, ohne sich mit anderen Schulträgern zu vergleichen?
Rieck: Was sie besser machen kann, hängt zum Teil gar nicht so mit dem katholisch oder christlich, wie ich es lieber bezeichne, zusammen, sondern das hängt mit dem Grad der Freiheit der Schulen zusammen. Man könnte dieses Konstrukt, das ich eben für die Naturwissenschaften umrissen habe, unterrichtlich noch viel weitergehender umsetzen. Das heißt, man könnte zum Beispiel den ganzen Bereich der Gesellschaftswissenschaften, zu dem ich jetzt mal die Religionslehre mit dazu nehme, innerhalb einer katholischen Schule, man könnte diesen ganzen Bereich ganz selbstständig aufbauen. Vieles steht hier nur gering vernetzt nebeneinander, es kommt zu ungewollten Dopplungen von Inhalten, die durch die entstehenden Interferenzen den Blick der Kinder eher trüben als erhellen. Man sollte auch hier in der kleineren Jahrgängen zuerst dem Wissensaufbau den Vorzug vor ohnehin oft noch nicht möglichen analytischen Arbeitsformen geben. Historische, gesellschaftliche und politische Aspekte unserer Welt und Umwelt könnten sehr viel stärker in Bezug gesetzt werden zu unserer christlichen Werteorientierung.
Schulmagazin: Darf ich Sie so verstehen, dass man unter dem Schirm der neu verordneten Kompetenzen durchaus den Mut erbringen sollte, eigene Inhalte zu koordinieren, um das Profil der katholischen Schule stärker in den Fokus zu rücken.
Rieck: Das ist ein lohnendes Ziel und Sie müssen es ohnehin leisten. Sie können aus einem Konstrukt von Kompetenzen heraus keine Unterrichtsinhalte deduzieren. Wir haben ja im Moment zu mindestens in NRW die Schieflage, dass sie einerseits eine Kompetenzwolke am Himmel haben und auf der unteren Ebene zentrale Prüfungen.
Schulmagazin: Ja und dazwischen liegen die Inhalte.
Rieck: Und dazwischen die Inhalte. Das ist ja beweglich. Das heißt also, wir haben ja im Grunde genommen vom politischen Ansatz her, das mit einer Kompetenzwolke voranschreitende Ministerium. Aus dieser Kompetenzwolke sollen dann Inhalte abgleitet werden. In der Praxis ist es aber so, dass die Kollegen die Erwartungshorizonte der zentralen Prüfung verinnerlicht haben und mit Blick auf die anvertrauten Lernenden auch ihrem Unterricht zu Grunde legen. Die Kollegen stellen die Frage: “ Was muss ich mindestens machen, um meine Schüler dahin zu bringen, dass sie gut durch die Prüfungen kommen?“.
Für mich basiert die gegenwärtige Bildungspolitik auf diesem fundamentalen Gedankenbruch.
Und deswegen haben wir, zum Beispiel auch schlechtere Noten in der Qualitätsanalyse durchaus in Kauf nehmend, gesagt, wir können in unseren Schullehrplänen jetzt nicht so tun, als würden wir wirklich aus diesen Kompetenzformulierungen unsere Bildungsgänge ableiten, sondern wir müssen genau hinschauen, welche Inhalte zu welcher Zeit, zu welchem Zweck sinnvoll sind und was für die Lernenden leistbar ist.
Und dann komme ich noch einmal auf die Gesellschaftswissenschaften, sie müssen ja auch hier erst einmal Wissensaufbau betreiben und dann muss man über diesen Wissensaufbau zu den grundsätzlichen Fragen kommen und da setzt dann auch das katholische wieder ein, denn das ist ja etwas, denn hier werden ja die grundsätzlichen Lebensfragen gestellt.
Hier war übrigens ein Buch von Neil Postman für mich sehr orientierend.
Schulmagazin: Wir amüsieren uns zu Tode von Neil Postman?
Rieck: Ja aber besser und immer noch sehr lesenswert ist das Buch ‚Keine Götter mehr‘, das die Unmöglichkeit thematisiert, ohne ein geschlossenes Paradigma zu unterrichten und zu erziehen. Der englische Untertitel ist "The End of Education". In der deutschen Übersetzung irrtümlich mit ‚Das Ende der Erziehung‘ übersetzt. Gemeint ist aber natürlich das Ziel von Ausbildung und Erziehung.
Ich hab´s mir kürzlich antiquarisch neu gekauft, weil ich es zweimal verliehen und zweimal nicht wiederbekommen habe. Obwohl vor mehr als 20 Jahren erschienen, ist es trotz allen technischen Fortschritts, den er seinerzeit in Bezug auf seine Folgen mehr beklagte als begrüßte, ein höchst lesenswertes Buch für alle, die sich grundsätzlich mit Bildung und Erziehung auseinandersetzen.
Postman bringt es am Ende auf den Satz: „ Was Schulen im besten Sinne leisten können, ist, den jungen Menschen ‚ins Leben zu helfen‘.
Ja, das ist so der Key Point und das ist unser Auftrag. Und dazu müssen wir mittlerweile an einigen Stellen Verantwortung übernehmen, die früher außerhalb der Schule lagen, die die Gesellschaft übernommen hat, die Elternhäuser übernommen haben. Das ist sicherlich auch eine Entwicklung der letzten zehn Jahre, wo die Schule viel mehr Dinge in den Blick nehmen muss als früher.
Schulmagazin: Jetzt haben wir schon so viele fundierte Gedankengebäude von Ihnen gehört, vielleicht gestatten Sie mir noch eine banale Frage, die ich anfangs schon mal anzubringen versuchte, was haben Sie sich denn für die Pension vorgenommen?
Rieck: Haben Sie schon mal gefragt?
Schulmagazin: Ja.
Rieck: Also was ich mir vorgenommen habe ist, dass ich mir erst einmal ein paar Monate Zeit lasse. Vor einem dreiviertel Jahr noch habe ich mich mit der Frage konfrontiert, was machst du nach der Berufsphase ganz konkret? Heute will ich nicht ausschließen, dass ich auch noch Dinge machen werde, die das Etikett beruflich könnten. Ich kann mir auch die eine oder andere Aufgabe auch noch im Kontext des Erzbistums vorstellen. Aber es gibt keine feste Verpflichtung mehr. Ich kann mir auch vorstellen, meine zu kurz gekommene Liebe zu meinem Unterrichtsfach Geschichte wieder nach vorne zu schieben und in diesem Zusammenhang bei Projekten z. B. der Stadtarchive in Bonn oder in Köln mitzuarbeiten. Ich habe mir vorgenommen, Dinge nur noch projektbezogen zu machen, aber ich möchte erst einmal abwarten was mit mir passiert, wenn ich von der sehr hohen Schlagzahl, die ich in den letzten fünf Jahren, besonders die letztem Jahr noch einmal gehabt habe, wenn ich davon einen gesunden Abstand habe. Da wird eine Art Vakuum entstehen, das ist mir klar, aber ich möchte nicht aus einer Phase hoher Arbeitsbelastung heraus Entscheidungen über meine zukünftige Beschäftigung treffen. Ich habe aber die Vermutung, dass mein Leben ausgefüllt bleiben wird.
Schulmagazin: Herr Rieck möchten Sie jetzt noch eine Antwort geben auf eine Frage, die ich nicht gestellt habe, die Sie aber erwartet haben?
Rieck: Ich bin offen für Ihre Fragen in das Gespräch gegangen. Insofern habe ich auch keine Fragen antizipiert.