Text: Dr. Karl Kühling
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Im Mittelalter entstehen vielfältige musikalische Formen zur künstlerischen Ausgestaltung einer lebendigen Liturgie: Sequenzen, Tropen, liturgische Spiele und – als wesentliches Element der Teilhabe der singenden Gemeinden – die Leisen.
Es sind dies eine Reihe von Liedern, die wir zu den kirchlichen Festen des Jahreskreises bis heute gerne singen. Sie entstammen der Tradition mittelalterlicher Frömmigkeit, sie sind also älter als die vielen Gesänge, die im Zusammenhang der Reformation überliefert wurden. Entsprechend ihrer Schlussformel „Kyrieleis(on)“ erhielten sie die Bezeichnung Leisen. Man zählt auch Lieder mit anderen liturgischen Schlussformeln (etwa dem österlichen Halleluja) hierzu. Bekannte Leisen sind das „Christ ist erstanden“, das „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ oder das „Gott sei gelobet und gebenedeiet“.
Musikalisch sind diese Lieder meist in der Form eines vierzeiligen Hymnus gefasst, in der zuvor bereits eine Reihe lateinischer Lieder zum weit verbreiteten Volksgut wurden.
Die Leisen gelten als „der wertvollste Beitrag des Mittelalters zum deutschen Kirchenlied.“
Das weit verbreitete Weihnachtslied „Gelobet seist du, Jesu Christ“ ist eine solche Leise. Seine Bekanntheit verdankt es auch der Fortdichtung durch Martin Luther, der die mittelalterliche erste Strophe aufgreift und weitere sechs Strophen hinzudichtet. Die früheste Quelle dieses Liedes ist die Handschrift eines Gebetbuches aus dem Kloster der Zisterzienserinnen in Medingen im Lüneburger Land aus der Zeit vor 1380.[2] Die religiösen Betrachtungen in diesem Büchlein deuten auf Verbindungen zur mitteldeutschen-thüringischen Mystik hin, die von Mechthild von Magdeburg, Gertrud der Großen von Helfta und Mechthild von Hackeborn mitgeprägt wurde. Bemerkenswert ist, dass Luthers Geburtsort Eisleben nahe beim Kloster Helfta liegt.
Die mittelalterliche Leise und ihre Verwendung in der Weihnachtsliturgie
„Louet sistu jh(es)u crist,
dat du hude bore(n) bist
va(n) eyner maghet dat is war,
dat vrowet sik alle de hem(m)elsche scar.
Kryol(eis).“
Für das mittelalterliche Lied Ghelouet sistu Jesu Christ sind einige Funktionen im Zusammenhang der liturgischen Feiern rund um das Weihnachtsfest bekannt geworden.
Aus Schwerin wurde übermittelt, dass dieser Gesang in Verbindung mit einer Prozession stand, die vor dem Weihnachtshochamt stattfand. Bei einer Statio während dieser Prozession streckte der Zelebrant dem Volk das Allerheiligste zur Anbetung entgegen, und die Schola der Cantores stimmte dreimal die Sequenz „Grates nunc omnes“ an, worauf die Gemeinde dreimal das einstrophige „Ghelauet sistu Jesu Christ“ sang.[2]
Das Büchlein der Medinger Zisterzienserin benennt eine andere Praxis, die auf eine Andachtsform vor der Komplet, dem klösterlichen Nachtgebet, verweist: Während einer Kindelwiegenfeier am späten Weihnachtsnachmittag soll die Beterin das Christkind aus der Krippe nehmen, hochhalten und in den Schlaf wiegen, damit es nicht weint. „Hoghe vnn vor dat leve kindeken dat id nicht en wene vnn singhe eme to laue vnn to eren in ynnecheyt dynes herten. Grates nunc ...“ („Halte das liebe Kindlein hoch und vor, und singe ihm zum Lobe und zur Ehre mit der Innigkeit deines Herzens: Grates nunc...“).
Der Brauch des Kindelwiegens ist vielerorts verbreitet gewesen, er klingt bis heute in manchem Krippenspiel an. Das Kindelwiegen auch zum musikalischen Gattungsbegriff in der Vielfalt weihnachtlicher Instrumental- und Gesangskunst.
Als eine kleine Sensation im Hinblick auf die Position innerhalb der Messliturgie dürfte die dritte bekannt gewordene Funktion dieser Leise gelten, die Walther Lipphardt mit Hilfe des Medinger Gebetbuches nachweist: „In der Stille (der Wandlung von Brot und Wein, während des eucharistischen Hochgebets) nimmt der Priester das hochgeborene Jesuskind, unseren Seligmacher, aus der Krippe des heilgen Altares, hält es hoch und zeigt es dem Volk, behütet an dem heiligen Sakrament. Und da läuten die Messdiener mit den Glocken, dass sie es alle ansehn sollen und Gott danken für die große Liebe, die er uns mit seiner Menschwerdung erweist. So falle auf deine Knie und singe auf dem Saitenspiel deiner Seele und sprich: „Gelobet seist du Jesu Christ“.
Diese besondere niederdeutsche Quelle, welche ein außergewöhnliches Brauchtum offenbart, sei wörtlich wiedergegeben:
„Vnder dem stilnisse so nimpft de prester dat hochgeborne kindeken Ihesus, vnsen salichmaker vt der cribben des hilgen altares vnde holt hoge up vnde wiset dat deme volke, behüt an dem hilgen sacramente vnde dar deyt de dener des altares en teken to mit de clocken, dat se alle scollen anseen vnde Gode dancken der groten leve, de he vns bewiset an siner mynscheyt, so valle vp dine kny vnde singhe yp dem seyden-spele diner sele vnde sprik: Ghelouet sistu ihesu crist...“
Hierin wird eine Sehnsucht der Betenden spürbar, an den Geheimnissen der Liturgie durch eigenes Zutun teilzuhaben. Insofern markiert diese Funktion der mittelalterlichen Leise einen bedeutenden Schritt für den volkssprachlichen Gesang in der Kirche. Was an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die Liturgische Bewegung und mit der Liturgiekonstitution das II. Vatikanische Konzil für den Bereich der katholischen Kirchen anstrebten, die participatio actuosa, die tätige Teilnahme der Gemeinde an der Gestaltung der Liturgie, ist wohl in einem solchen Lied bereits im Mittelalter erkennbar.
All diese verschiedenen Positionen für ein und dasselbe Lied deuten zudem auf ein äußerst lebendiges mittelalterliches liturgisches Brauchtum hin.