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Meilenstein in der Medizingeschichte

Ein Meilenstein in der Geschichte der Medizin

'Schutzpocken-Impfungs-Schein' von 1821 für die 4 Monate alte Anna Maria Horn in Sinzenich

Während der Pfarrer letztlich für das Seelenheil der Menschen wirkt, sind kommunale und staatliche Verwaltung für das irdische Wohl der Bevölkerung verantwortlich: Vor rund 200 Jahren galt es, den gefährlichen Pockenepidemien Herr zu werden, die immer durch Fieber und innere Blutungen Menschen dahinrafften. 1796 hatte der Brite Edward Jenner die Schutzimpfung mit harmlosen Kuhpockenerregern entdeckt. Weil man ihm seine bahnbrechende Entdeckung nicht glaubte, sah er sich zu ethisch fragwürdigen Versuchen an seinem 11-monatigen Sohn gezwungen. Schon wenige Jahre später begannen in Deutschland systematische Impfungen. Als die Preußen 1815 das Rheinland übernahmen, brachten sie ihr Medizinalwesen mit. In preußisch-gründlicher Manier wurde nun auch hier flächendeckend geimpft.

 

Es zeugt heute vom besonderen Wert der Pfarrarchive, dass sie bisweilen auch markante kommunale Geschichtsdokumente enthalten. In den Unterlagen der Pfarrei Sinzenich (bei Zülpich), die im Historischen Archiv des Erzbistums Köln lagern, gibt es Pockenschutz-Impflisten der Jahre 1817-1829 für die Orte der Bürgermeisterei Sinzenich. Mehr als 500 Menschen, im Grunde ganze Dörfer, sind darin namentlich aufgeführt; ein Schatz auch für die Sozial- und Bevölkerungsgeschichte.

 

Zur Impfvorbereitung wurden zunächst alle Familien mit der Zahl ihrer Mitglieder aufgelistet und jene Personen erfasst, die bislang noch keine Pockenerkrankung überstanden hatten. Diese waren zu impfen. Dabei ersieht man aus den Dokumenten auch den Bildungsstand. Die unterschriftspflichtigen Familienvorstände, v. a. Ackerer und Tagelöhner, haben die Angaben oft selbst unterzeichnet. Manchmal lautet die Eintragung von anderer Hand: „erklärt nicht schreiben zu können“. Die eigentlichen „Impflisten“ dokumentieren dann für jeden Geimpften den Namen des Arztes und die Herkunft der Impfflüssigkeit. Man übertrug nämlich die Flüssigkeit – nach dem „Animpfen“ einer Person mit Kuhpocken – reihum von einem Geimpften auf den nächsten. Preußisch genau dokumentierte man auch die Befunde über den Erfolg der Impfung, welche ja eine leichte Form der Pocken auslöste. Selbst „Zahl und Form der Schutzpocken“, die sich auf der Haut bildeten, wurden vermerkt.

 

Die Impfbewegung zeigte Wirkung. Die Sterblichkeit besonders der Kleinkinder sank. Zusammen mit anderen Maßnahmen, vor allem zur Verbesserung der Hygiene, trug die Pockenschutzimpfung zum bald rapiden Anstieg der Bevölkerung in Mitteleuropa bei. Hierin lag auch der Grund für das Anwachsen der Gemeinden, für die Gründung neuer Pfarreien und den Bau neuer größerer Kirchen im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts.

 

Abgebildet ist ein ärztlicher „Schutzpocken-Impfungs-Schein“ für einen Säugling. Weil sich 12 Tage nach der Impfung „3 ächte Schutzpocken“ auf der Haut gebildet hatten, konnte der Arzt mit Datum vom 12. Mai 1821 den Impfschutz bescheinigen. Nur 25 Jahre nach Jenners gewagten Versuchen brauchte die rheinische Bevölkerung vor einer der gefürchtetsten Epidemien keine Angst mehr zu haben.

 

Ulrich Helbach