Zum Inhalt springen
Service

Kunstvoll gekratzt – Kreuzweg und Kanzelgestaltung in St. Paulus in Bonn-Tannenbusch

Erste Kreuzwegstation in St. Paulus in Bonn-Tannenbusch
Datum:
1. Sept. 2023
Objekt des Monats – September 2023

Ludwig Schaffrath, Alsdorf, 1953
Sgraffito-Technik

In Bonn-Tannenbusch wurde 1952/53 mit St. Paulus durch den Architekten Stefan Leuer (1913-1979) einer der ersten Kirchenneubauten im Erzbistum Köln nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet. Besonders bedeutend sind in dieser Kirche die Sgraffiti der Kreuzwegstationen an der nördlichen und südlichen Wand und der Evangelistensymbole am Korb der ehemaligen Kanzel. Es sind Arbeiten des Künstlers Ludwig Schaffrath (1924-2011), der damals als Assistent und Mitarbeiter von Anton Wendling (1891-1965) an der RWTH Aachen arbeitete und heute eher für seine Fensterentwürfe bekannt ist.

Die Technik
Sgraffito (im Plural: Sgraffiti) – ein wohlklingendes italienisches Wort, das vom Verb „sgraffiare“ oder „graffiare“ (= „kratzen“) und vom griechischen „graphein“ (= „schreiben“) abgeleitet ist. Im Deutschen wird es mit dem nüchtern-sperrigen Begriff „Kratzputz“ übersetzt. Kratzputz wird definiert als „Putz aus mehreren farbig getönten Schichten. Durch Abkratzen der oberen Schichten stößt man auf die andersfarbigen unteren Schichten, wodurch man architektonische, figürliche oder ornamentale Dekorationen von großer Haltbarkeit erzielen kann.“[1]

Die Geschichte dieser Technik lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Nördlich der Alpen wurde sie besonders in der Zeit der Renaissance bekannt und beliebt. In Deutschland waren Sgraffiti in den 1950er Jahren gleichsam ein „Epochensignal der Kunst am Bau […]“[2] – vor allem im Wohnungsbau und an öffentlichen Gebäuden, aber auch an Kirchen. Derartige Arbeiten boten eine preisgünstige Lösung, eine breite Öffentlichkeit mit modernen abstrakten Formen vertraut zu machen. 

Die Kreuzwegstationen
Der Kreuzweg in St. Paulus besteht aus 14, von Ludwig Schaffrath selber in den Wandputz gearbeiteten, großformatigen Stationen, die mit der weißen Fläche eine Verbindung eingehen und als Bildband auf der Nord- und Südwand angeordnet sind. Die geritzten, in nur wenigen Erdfarben abgesetzten kurvigen Konturen und kleinen Flächen bilden reduzierte, das Wesentliche hervorhebende Interpretationen der Kreuzwegthematik, die alle Konventionen hinter sich lassen. Dabei tragen nur Jesus, Maria, Johannes der Evangelist, Simon von Cyrene, Veronika und die trauernden Frauen deutlich erkennbare Gesichtszüge. Pilatus und die Legionäre erscheinen hingegen als Umrisse und werden gewissermaßen als gesichtslose Vollstrecker charakterisiert. Auf diese Weise trennt Schaffrath die Guten von den Bösen. Den Abschluss des Kreuzweges bildet eine stilisierte Taube und die Inschrift:

„A(d) / M(aiorem) / D(ei) / G(loriam) (= zur größeren Ehre Gottes) / 1953.“

Die Kanzel
Auf dem ehemaligen Kanzelkorb, der heute als Unterbau für ein Rückpositiv der Orgel dient, werden die in der Offenbarung des Johannes erwähnten vier Lebewesen mit wenigen Linien skizziert; die Flächen sind aufgelöst und mit zahlreichen augenähnlichen Formen besetzt. Damit lehnt sich die Darstellung relativ eng an das letzte Buch der Bibel an: „Und jedes der vier Lebewesen hatte sechs Flügel, außen und innen voller Augen“ (Offb 4,8). Diese vier Lebewesen wurden in der frühchristlichen Ikonographie zu Symbolen der vier Evangelisten (v.l.n.r.: der Adler für Johannes, der Stier für Lukas, der Löwe für Markus und der Mensch für Matthäus).

Vorbilder und Kontroverse
Als unmittelbares Vorbild für derartige, wie Umrisszeichnungen oder Silhouetten wirkende Darstellungen im kirchlichen Bereich ist besonders die 1950 erfolgte Ausgestaltung der Rosenkranzkapelle des Dominikanerinnenklosters in Vence bei Nizza durch Henri Matisse (1869-1954) anzusehen.[3] Sie erinnern aber auch an Arbeiten von Künstlern wie Hans Arp (1886-1966), Oscar Schlemmer (1888-1943), Marc Chagall (1887-1985), Wassily Kandinsky (1866-1944), Victor Vasarely (1906-1997) und Joan Miró (1893-1983).[iv] 

In den frühen 1950er Jahren waren stark abstrahierende Darstellungen wie diejenigen in St. Paulus allerdings nicht unumstritten – schon gar nicht im Zusammenhang mit einem Sakralraum. Sie stießen gleichzeitig auf begeisterte Zustimmung und schärfste Ablehnung.[5] In Verbindung mit dem völlig schmucklosen Innenraum der Tannenbuscher Kirche galten Schaffraths Sgraffiti vielen Besuchern als „übermodern“[6]. Einigen Wissenschaftlern und Künstlerkollegen Schaffraths erschienen sie als zu banal und alltäglich für ein Gotteshaus. So sprach etwa der Bildhauer Otto Pankok (1893-1966) von einem „billigen Plakatstil“[7]. Ein wohlwollender Artikel im Bonner Generalanzeiger vom 23. Juni 1954 wurde zum Auslöser von Kritik am hohen Grad der Abstraktion. 

Heute sind die Arbeiten Ludwig Schaffraths - auch in der Gemeinde St. Paulus - längst anerkannt und gelten allgemein zugleich als wichtige Zeugnisse ihrer Entstehungszeit und als zeitlose Interpretationen sakraler Themen. 

Carsten Schmalstieg

Literatur

Grünkorn, Franz/Haffke, Jürgen/Becker, Florian/Dietrich, Michael: Bonns Nordwesten. Stationen der Entwicklung von Auerberg, Buschdorf, Graurheindorf und Tannenbusch. Bonn 1988. 

Herberg, Josef (Hrsg.): Kirchen in Bonn. Geschichte und Kunst der katholischen Pfarreien und Gotteshäuser. Petersberg 2011, S. 145f. 

Höller, Hans: Chronik der Pfarrgemeinde St. Paulus. In: 40 Jahre Gemeinde St. Paulus im Tannenbusch. Hrsg. vom Pfarrgemeinderat der Pfarrei St. Paulus. Bonn 1993, S. 8 und S. 13-19.

Koepf, Hans/Binding, Günther: Bildwörterbuch der Architektur. Stuttgart6 2022.

Passavanti, Wilhelm (Hrsg.): Bonner Kirchen und Kapellen. Geschichte und Kunst der katholischen Gotteshäuser und Pfarreien. Bonn 1989, S. 135-137.

Schaab, Christoph/Pawlik, Anna: Das Hermann-Joseph-Sgraffito an St. Maria im Kapitol zu Köln und andere Sgraffiti der Jahrhundertmitte im Rheinland. In: Weyer, Angela/Klein, Kerstin (Hrsg.): Sgraffito im Wandel. Materialien, Techniken, Themen und Erhaltung. Tagungsband der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim in Kooperation mit dem Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, 2.-4. November 2017. Petersberg 2019, S. 77-92.

Schwanke, Hans-Peter: Im Spannungsfeld zwischen Dekoration und Kunst: „Kunst“ am Bau der 50er Jahre. In: Denkmalpflege im Rheinland 8 (1991), S. 129-137.


[1] Koepf/Binding 2022.
[2] Schwanke 1991, S. 131.
[3] Passavanti 1989, S. 137 – Herberg 2011, S. 146.
[4] Zur weitergehenden künstlerischen Ein- und Zuordnung von Kunst am Bau vgl. Schwanke 1991, S. 136f.
[5] Höller 1993, S. 8.
[6] Grünkorn/Haffke/Becker/Dietrich 1988, S. 48.
[7] Schaab/Pawlik 2019, S. 89, hier auch eine Zusammenfassung der Kontroverse um die Sgraffiti in St. Paulus.