Nicht nur diese Zahlen präsentierte und kommentierte Prälat Dr. Assenmacher beim Richtertag. Unter der Überschrift „An der Peripherie“ erörterte er die Stellung der kirchlichen Gerichtsbarkeit in der Gesamtproblematik der vielen Menschen, deren Ehe gescheitert ist, und die ungeachtet der Frage des fortbestehenden Ehebandes neu heiraten.
Ganz richtig, so unterstrich er, stellt die Deutsche Bischofskonferenz [in ihrer Zusammenfassung der Antworten aus den deutschen Bistümern auf die Fragen im Vorbereitungsdokument für die Dritte Außerordentliche Vollversammlung der Bischofssynode 2014 (Nr. 4.f)] fest: "… Die meisten Katholiken, deren Ehen gescheitert sind, [befassen] sich nicht mit der Frage der Gültigkeit, weil sie ihre langjährige Ehe nicht als 'nichtig', sondern als gescheitert betrachten. Ein Verfahren der Annullierung wird daher oft als unehrlich empfunden. Sie erwarten, dass die Kirche ihnen – etwa nach der Praxis der orthodoxen Kirchen – einen Neuanfang in einer Beziehung ermöglicht." (Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung – Texte zur Bischofssynode 2014 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz = Arbeitshilfen Nr. 273, S. 26)
Aber: Kann man es bei dieser Feststellung belassen und ohne jede Stellungnahme fortfahren: "Für einen kleineren Teil der Betroffenen könnte das kirchenrechtliche Ehenichtigkeitsverfahren zur Lösung ihrer Probleme beitragen, wenn das Verfahren zeitig gestrafft, vereinfacht und durch eine pastorale Begleitung ergänzt wird."?
Wenn im Jahr 2014 am Kölner Offizialat 101 neue Verfahren angestrengt wurden, betrifft dies unmittelbar 202 Personen. Diese Zahl, die verschwindend gering erscheint, müsste die Verantwortlichen beunruhigen. Es ist zu fragen: Warum wenden sich nicht mehr Betroffene an die kirchlichen Gerichte? 40.500 Ehen wurden im Jahr 2013 in NRW von den zivilen Gerichten geschieden. Legt man eine Quote von 30% Katholiken in der Bevölkerung zugrunde, wären von diesen geschiedenen Ehen wenigstens 24.300 katholische Christen betroffen.
Wenn überhaupt, dann wie setzt sich die übergroße Zahl von Betroffenen, die die Frage der Gültigkeit ihrer Ehe nicht interessiert, mit dem Scheitern auseinander? Haben die Menschen, die das kirchliche Verfahren "oft als unehrlich empfinden", überhaupt eine zutreffende Vorstellung davon, oder sind es Vorurteile, die sie wiedergeben? Werden die Gläubigen auf die Möglichkeit dieses Weges von den Priestern, Diakonen und anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Seelsorge hingewiesen und ermutigt, sich zumindest sachkundig beraten zu lassen? Oder werden vielerorts längst andere "Lösungen" praktiziert, und wenn ja, mit welcher Autorität und um welchen Preis?
Jedenfalls rechtfertigt die prima vista so gering erscheinende Zahl der kirchlichen Eheverfahren nicht, dass in der öffentlichen Diskussion weithin von der Arbeit der kirchlichen Gerichte kaum mehr oder nur noch negativ die Rede ist. Es ist doch seltsam, dass - soweit hier bekannt ist - jedenfalls in der öffentlichen Diskussion im Vorfeld der Bischofssynode niemand die Erfahrungen der kirchlichen Gerichte abgerufen hat.
Die Prinzipien, an denen sich die kirchliche Gerichtsbarkeit orientiert, beinhalten Unaufgebbares: Dass wir Menschen nicht nur geprägt sind von einer Sehnsucht nach umfassender Begegnung mit einem anderen Menschen, sondern auch dazu fähig, uns für ein Leben lang an ihn zu binden; dass aus dieser Bindung zweier Personen etwas für sie Unverfügbares erwächst, eine Verbindlichkeit, aus der weder sie selbst noch jemand anders sie ohne weiteres entlassen kann; dass diese lebenslange Bindung zunächst einmal keine Fessel ist, keine Utopie, sondern eine Hoffnung, der Gott seine Gnade zusagt und die Möglichkeit des Gelingens; dass Treue ein Wesenselement dieser Form von Beziehung ist; dass es anzuerkennen gilt, dass die Gemeinschaft von Mann und Frau nicht gestört oder beeinträchtigt wird, wenn aus dem Paar eine Familie wird – im Gegenteil: Auch darauf ist die Ehe angelegt.
Was die Brautpaare sich bei Heirat versprechen, ist nicht etwas, was dem Menschen fern liegt, etwas ihm Wesensfremdes, ein Joch, das er auf sich nimmt, ein Überbau, eine Ideologie, sondern Gegenstand seiner tiefsten Sehnsucht.
Es gilt nicht nur, wie im Kontext der vorsynodalen Befragungen bis zum Übermaß getan, den "unbefangenen Blick auf die Wirklichkeit der Verhältnisse" zu reklamieren und "Wertschätzung" als Imperativ noch und noch zu unterstreichen, sondern auch den Anspruch von Gottes Wort und Weisung zu wahren.
Die Ehe als Sakrament zu leben, heißt nicht weniger, als sich dem Diktat zu verweigern, dass man unbedingt und um jeden Preis glücklich sein muss; es bedeutet vielmehr, bei der legitimen Suche nach dem persönlichen Glück auch die "Zumutungen" auszuhalten, die ein Mensch immer für den anderen Menschen bedeutet; ernst damit zu machen, was man für "gute und böse Tage" versprochen hat; unbeirrbar dem Ehegatten den Platz freizuhalten, selbst wenn dieser weggegangen ist; nichts von dem Versprechen zurückzunehmen, das man dem anderen gegeben hat und so in unserer Welt ganz handfest erfahrbar zu machen, dass Gott uns an seiner Liebe teilhaben lässt, die wirklich unerschütterlich ist.
Kardinal Woelki bedankte sich in seiner Antwort auf die Ansprache des Offizials für dessen 20-jährige Tätigkeit am Ehegericht. Keine Personalentscheidung am Anfang seiner Tätigkeit sei ihm so leicht gefallen wie die Ernennung des Generalvikars und die Bestätigung des Offizials. Er dankte auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre sicherlich nicht einfache Aufgabe, Tag für Tag die Lebensgeschichten anderer Menschen anzuhören und sich damit beschäftigen zu müssen, mit ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, ihren Neuanfängen und ihren Fragen nach ihrer Stellung in der Kirche. Bei allem Mitgefühl für den einzelnen und sein Schicksal erinnere er sich immer an ein Wort von Kardinal Höffner: Kein Bischof, kein Konzil und kein Papst habe die Vollmacht, das Wort Jesu umzudeuten: "Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen."
Prälat Dr. Günter Assenmacher
Erzbischöflicher Offizial