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Orgelklang und Totenstille

AdventsZeit 2024: Orgelklang und Totenstille
Von:
Robert Boecker

Michael Bergrath ist engagiertes Gemeindemitglied, ehrenamtlicher Kirchenmusiker und von Beruf Tatortreiniger.

Als die letzten Klänge der mächtigen Orgel in der großen St.-Anna-Kirche in Düren verhallen, bleibt Michael Bergrath in sich versunken am Spieltisch sitzen. Wenige Augenblicke zuvor hat er alle Register gezogen und Bachs „Toccata“ gespielt. Laut, sehr laut. Aus dem Kopf, denn Noten kann der 58-Jährige nicht lesen. Gespielt hat er nur für sich. Wie jeden Abend.

Als Mitglied des Kirchenvorstands der Gemeinde hat er den Schließdienst für die Kirche übernommen. „Das hat den Vorteil, dass ich ungestört täglich die Orgel spielen kann“, sagt Bergrath. Orgelspielen ist seine Leidenschaft. Wenn kein Kirchenmusiker zur Verfügung steht, begleitet er in den Messen den Gesang der Gemeinde. Er hat einen großen Wunsch: in möglichst vielen Kathedralen einmal am Spieltisch zu sitzen und die „Königin der Instrumente“ erklingen zu lassen.

Orgelspielen ist für Bergrath auch ein Stück Befreiung – Befreiung von den Eindrücken, die sich tagsüber infolge seines Berufes im Kopf breitgemacht haben. „Der Griff in die Tasten und die Klänge des Instruments sind für mich wie das Drücken eines Reset-Knopfes. Ich verlasse die Kirche – und mein Kopf ist frei“, sagt der Mann, der als Berufsbezeichnung „staatlich geprüfter Desinfektor“ und „zertifizierter Tatortreiniger“ angibt.

Mit Chemie am Leichenfundort

Ist ein Mord passiert, hat sich jemand daheim umgebracht oder wird nach Wochen oder Monaten in einer Wohnung eine Leiche gefunden, beginnt nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen und nach der Freigabe der Örtlichkeit durch die Staatsanwaltschaft die Arbeit von Bergrath und seinen Leuten. Seine Aufträge erhält er von Angehörigen oder beispielsweise von Wohnungsbaugesellschaften.

Sein Job besteht darin, die Wohnung wieder bewohnbar zu machen. Je nachdem, wie lange eine Leiche dort gelegen hat, kann sogar die Entfernung des Estrichs zum Auftrag zählen. Bergrath weiß, wie Verwesungsgeruch zu beseitigen ist oder ausgetretene Körperflüssigkeiten zu neutralisieren sind. Einen Grundsatz hat er: „Ich frage nie nach dem Namen, dem Alter oder den Lebensumständen des Menschen, der hier gestorben ist und dessen Spuren ich beseitigen muss.“ Und dennoch gäben die Wohnungen so viel vom Leben desjenigen preis, der dort seinen letzten Atemzug getan habe.

„Es ist die Einsamkeit der Menschen, die einen beim Betreten eines Leichenfundortes oft förmlich anspringt“, schildert der gelernte Steinmetz seine Gefühle. Es sei nur sehr schwer nachzuvollziehen, dass ein Mensch einfach so von der Bildfläche verschwinde, ohne dass dies jemandem auffalle. „Und das kommt immer häufiger vor. Die Zahl der einsamen Menschen wird immer größer“, beschreibt Bergrath seine Erfahrung. Dann erzählt der Vater eines erwachsenen Sohnes von einem Fall in einem Mehrfamilienhaus. Dort hatten sich Bewohner über einen ungewöhnlichen Befall mit Fliegen beschwert. Viermal habe man den Kammerjäger gerufen. „Erst dann ist jemand auf die Idee gekommen, die Wohnung öffnen zu lassen, die als Quelle des Fliegenbefalls identifiziert worden war. Dort fand der Hausmeister dann eine Leiche. Anhand der Post ließ sich der ungefähre Todeszeitpunkt auf drei Monate zuvor datieren.“

Wenn Bergrath einen Leichenfundort reinigt, kommt viel Chemie zum Einsatz, und nicht nur deshalb sind Schutzanzug, Atemmaske, mehrere übereinandergezogene Paar Handschuhe und Plastiküberzieher für die Schuhe Pflicht. Der Selbstschutz sei sehr wichtig. „Gerade wenn Leichen mehrere Tage oder länger unbemerkt liegen, bilden sich nicht nur Gase, sondern es treten auch Körperflüssigkeiten aus, die in Verbindung mit dem Verwesungsprozess gefährliche Kontaminierungen verursachen können“, begründet der 58-Jährige die aufwendigen Schutzmaßnahmen.

Mit Glück in den Dom

Bergrath, dessen Vater ein hochrangiger Kripo-Beamter im Aachener Polizeipräsidium war, engagiert sich in seiner Kirchengemeinde in vielfältiger Weise sozial-karitativ. Mehrere Jahre hat er eine „nicht unschwierige“ Ordensfrau, die völlig allein war, täglich betreut. Durch diese Tätigkeit und die Erfahrungen aus seinem beruflichen Alltag weiß er, was Vereinsamung bedeutet. „Dieser Entwicklung wollte ich nicht tatenlos zuschauen“, sagt er. „Deshalb habe ich einen Service für Seniorenumzüge in ein betreutes Wohnen gegründet, bei dem die Senioren nichts bezahlen müssen, sofern sie eine Pflegestufe oder eine minimale Rente haben.“ In diesen Fällen übernehme nämlich die Pflegekasse beziehungsweise das kommunale Jobcenter die Kosten. Zahlreiche betagte Senioren hätten bereits von dem Angebot Gebrauch gemacht, dankbar dafür, dass sich jemand kümmere.

Nach getaner Arbeit freut sich der Aachener auf seine persönliche Orgelstunde. Dann erklingen in St. Anna auch schon mal kölsche Karnevalshits. Einer seiner größten Wünsche, die Orgel im Kölner Dom zu spielen, ging schon vor vielen Jahren in Erfüllung. „Ich bin dem damaligen Dompropst Bernard Henrichs so auf die Nerven gegangen, dass er den Domorganisten bat, mir doch bitte den Gefallen zu tun“, erinnert sich Bergrath. Vielleicht habe es damals geholfen, dem Dompropst gegenüber zu erwähnen, dass die Kölner Unterweltgröße Heinrich Schäfer, in der Domstadt aufgrund seiner riesigen Nase besser bekannt als „Schäfers Nas“, sein Patenonkel sei. Kurz vorher hatte die „Nas“ ihre Kontakte ins Milieu spielen lassen und ein Tage zuvor aus dem Dom gestohlenes Vortragekreuz wiederbeschafft. Mit den Worten „Den Dom beklaut man nicht“ hatte Heinrich Schäfer dem Dompropst das Kreuz zurückgebracht und voller Entrüstung die ausgelobte Belohnung zurückgewiesen. „Und so bin ich zum Orgelspiel im Dom gekommen“, sagt Bergrath und schmunzelt.